Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
kann ihn nicht einziehen.«
»Ist er kaputt?«
Oda hatte bislang immer gedacht, die Zwerge seien das merkwürdigste Volk, wenn man einmal von den Grünblutern absah. Mit ihren deftigen Sprüchen, den Trinkgelagen, dem Leben unter der Erde und den vielen abnormen Bräuchen unterschieden sie sich von allen anderen Völkern. Die Tunnelgnome setzten aber mit ihrer Begriffsstutzigkeit noch eins oben drauf.
»Es geht eben nicht«, sagte sie, um weitere Missverständnisse zu vermeiden.
»Tief Luft holen, Zunge gegen den Gaumen drücken, Finger spreizen und die Fersen durchdrücken«, gab Schmutzigbraun Anweisungen.
Welche Optionen hatte Oda? Zurückkriechen kam für sie nicht in Frage. Und sie hatte schließlich nichts zu verlieren, indem sie es versuchte. Also tat sie genau das, was der Tunnelgnom ihr geraten hatte, und … kam frei. Als sie aus dem Loch krabbelte, erwartete der Tunnelgnom sie mit einem breiten Grinsen.
»Was ist das für ein verdammter Kriechgang?«, fragte Oda.
»Ein Reparaturtunnel«, sagte Schmutzigbraun. »Wenn ein Teil der Höhlen einstürzt, kann man durch diese Tunnel in die anderen Bereiche kommen und von dort aus arbeiten.«
»Und wo sind wir jetzt?«
Der Gnom sah sich um. »In einer Höhle«, sagte er mit fester Überzeugung.
Komm zu mir, Oda!
Sie blickte sich um. Sie stand tatsächlich in einer Höhle. Fackeln brannten an den Wänden, gleich denen, die die Tür zuvor im Gang schon erhellt hatten. Diese hier mussten sich durch die Anwesenheit des Gnoms entzündet haben. Waren die Wände des Ganges sauber verputzt gewesen, sah dieser Bereich natürlichen Ursprungs aus. Erdreich ging über in schroffe Felsen. Die Höhle war verwinkelt und in etwa so groß wie der Tempel in Eichenblattstadt.
»Weißt du, wohin diese Höhle führt?«, fragte sie den Tunnelgnom.
»In die große Höhle«, sagte er und zeigte in südliche Richtung.
»Was ist in der großen Höhle?«
»Nichts Gutes«, erwiderte Schmutzigbraun und wagte einen verstohlenen Blick in den düsteren Teil der Höhle. »Ich kann es fühlen.«
»Ich muss dort hin«, sagte Oda.
»Ich nicht«, erklärte der Gnom. »Ich bleibe hier, falls du wieder feststeckst.«
Oda nickte Schmutzigbraun zu, ebenso ein Dank wie ein Abschied.
Die Höhle lief spitz zu und endete in einem Durchbruch. Alle zwanzig Fuß entzündete sich eine Fackel zwischen den Felsen wie von Zauberhand. Oda betrachtete skeptisch das Gestein um sich herum. Es sah aus, als sei es zerfressen worden. Harter Granit war an den Ecken porös geworden wie Bimsstein und dann zerfallen. Der Boden war mit den ascheähnlichen Rückständen bedeckt.
Komm zu mir, Oda!
»Ich bin gleich da«, flüsterte sie.
Kaum hatte sie es ausgesprochen, flammten neue Lichter auf und erhellten eine Höhle vor ihr, die so groß war, dass man ein Schloss hätte hineinstellen können. Hunderte von schwebenden Lichtern hingen wie übergroße Glühwürmchen in der Luft, einige kurz über dem Boden, andere hundert Fuß und höher. Der Boden war im Gegensatz zu den Wänden glatt und eben. Auch hier bedeckte diese Schicht aus zersetztem Gestein alles. Oda sah sich verwirrt um. Die Höhle war leer. Nur ein einzelner Stuhl und ein kleiner Tisch standen fast mittig in dem Gewölbe.
»Wo bist du?«, schrie Oda, und ihre Worte hallten von den Wänden wider.
Niemand antwortete.
Oda schlich langsam zu dem Stuhl hinüber. Behutsam setzte sie Fuß vor Fuß, darauf bedacht, so wenig Staub wie möglich aufzuwirbeln, als handele es sich um giftige Sporen. Ängstlich sah sie sich nach allen Seiten um. Die riesige Höhle und die vielen Lichter ließen jedes Gefühl für Entfernung vergehen. Es dauerte ewig, bisOda den Stuhl und den Tisch erreichte. Sie waren von einer dünnen Staubschicht bedeckt, aber auf dem Tisch war der Abdruck von einer Flasche und einem Glas zu erkennen. Oda konnte sich keinen Reim darauf machen. Plötzlich war ihr schwindelig, also setzte sie sich.
Ich mag das Licht nicht. Es schmerzt in den Augen.
»Wo bist du? Zeig dich mir«, sagte sie mit ruhiger Stimme.
Ich bin direkt vor dir, sieh hin , antwortete die Stimme in ihrem Kopf.
Odas Blick fraß sich Zoll um Zoll über die Tischplatte. Plötzlich verspürte sie Angst. Hatte sie eine riesige Dummheit begangen? Was, wenn dies alles nur eine Falle war, ein Spuk, ein böser Zauber?
Ihr Blick kroch über den Boden. Ihre Augen tasteten sich zwischen Licht und Schatten vorwärts. Dann entdeckte sie die wurzelähnlichen blutroten Stränge
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