Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
dass gern durch den Wald rannte und Äste von Bäumen riss.
Bonne hatte zu Milo aufgeholt. Seite an Seite rannten sie um ihr Leben. Milo sah aus dem Augenwinkel, dass Bonne einen kurzen Blick über die Schulter wagte.
»Nichts«, keuchte er, rannte aber weiter.
Die Vibrationen der schweren Schritte hinter ihnen wurden mit jeder Sekunde stärker, und in immer kürzeren Abständen brachen Äste oder knackte es im Unterholz.
»Ich kann nicht mehr«, stöhnte Bonne.
»Ich mach noch zwei Runden, wetten, du hältst das nicht durch?«, hechelte Milo und kämpfte mit seinem trockenen Husten. Er hoffte, seinen Bruder mit dieser Herausforderung nocheinmal anzuspornen, denn er würde ihn nicht allein zurücklassen, egal wie viel Angst er hatte vor dem, was hinter ihnen her war.
Bonne legte sich noch einmal ins Zeug, um an die Spitze zu kommen. Dann erklang plötzlich ein Aufschrei, ein dumpfes Klatschen, und er war verschwunden.
Milo verstand sofort, was passiert war. Er stemmte die Fersen in den schlammigen Boden, ließ sich mit einer halben Drehung zu Boden sinken und schlitterte auf der Hüfte und mit einer Hand abgestützt über den Waldboden. Einige Schritt hinter sich sah er Bonne liegen, zusammengekrümmt und die Arme schützend über den Kopf geschlagen. Sonst sah Milo niemanden – bis der Verfolger sich plötzlich über seinen Bruder hockte und mit funkelnden gelben Augen hasserfüllt zu Milo hinüberstarrte. Die Tarnung der Kreatur war nahezu perfekt. Zwischen all den Ästen, Baumwurzeln und verdorrten Sträuchern war er fast unsichtbar. An Stelle von Füßen besaß das Wesen knorrige Klauen, die wirkten, wie aus Wurzelholz geschnitzt. Die dünnen Beine maßen zwei Halblingslängen und waren voll sehniger Muskeln. Die Arme waren zu lang für den Oberkörper und reichten dem Ungetüm bis auf die Knie. Die Haut glänzte braun und grün und schien von Flechten übersät. Was Milo aber den Atem stocken ließ, war die ihm zugewandte Fratze. Der Unterkiefer stand weit vor. Zwei riesige Hauer stachen daraus hervor und ragten bis über die knollige Nasenspitze hinaus. Schleimiger Geifer tropfte aus dem Maul und kleckerte auf Bonnes grünen Umhang herab. Dem sonst kahlen Kopf entsprangen einige lange, strähnige Haarbüschel und fielen dem Wesen ins Gesicht. Dazwischen hindurch funkelten zwei gelbe Augen aus tiefen dunklen Höhlen.
»Bonne, nicht bewegen. Stell dich tot. Ein Troll. Ich versuche, ihn wegzulocken. Vielleicht lässt er dann ab von dir.«
Zu spät. Der Troll packte Bonne bei den Füßen und zog ihn in die Höhe. Mit nur einer Pranke hielt er den Halbling kopfüber vor seine Fratze und schnüffelte an ihm, während er ihn hin und herschwenkte. Die großen verklebten Nüstern blähten sich auf, und ein regelrechtes Rinnsal aus Sabber floss aus seinem Maul.
»Lass ihn los, du widerliches Scheusal!«, brüllte Milo und kramte in seinem Rucksack nach dem alten Jagdmesser, dass er aus ihrer Küche in Eichenblattstadt mitgenommen hatte.
Der Troll schien wenig beeindruckt und stampfte auf ihn zu. Milo fand alles Mögliche in seinem Gepäck und kramte und wühlte immer mehr hervor. Gerade als er das Messer zu packen bekam, schloss sich die Pranke des Ungetüms um seine Fußknöchel und hob ihn ebenfalls in die Lüfte. In Panik ließ Milo das Messer fallen, bekam aber gerade noch seinen Rucksack zu fassen.
Für einen Augenblick verlor er die Orientierung. Dann hörte die Welt auf, sich um ihn zu drehen, und er hing kopfüber neben seinem Bruder. Sie schwebten etwa drei Fuß über der Erde, fest umklammert vom eisigen Griff des Ungetüms.
»Du versuchst, ihn wegzulocken, ja?«, stammelte Bonne. »War das dein Plan? Du hättest einfach wegrennen sollen. Zumindest einer von uns sollte es wieder nach Hause schaffen. Wem soll Vater sonst seine Standpauke halten?«
»Wir schaffen es auch so«, flüsterte Milo. »Trolle sind unglaublich blöd. Wir versuchen, ihn reinzulegen und abzuhauen, wenn er schläft.«
Milo zweifelte an seinem eigenen Verstand. Wie konnte er nur so einen Unsinn von sich geben? Sie wurden fortgeschleppt wie zwei erlegte Hasen, das Magenknurren des Viehs war schon zu hören, und er faselte etwas von weglaufen. Trolle waren die größten und gefährlichsten Jäger in den Wäldern. Und sie ließen sich bestimmt nicht von einem Haken schlagenden Halbling abhängen. Aber was sollte er tun? Er war der Ältere, und Bonne verließ sich auf ihn. Wenn er keine Antwort mehr hatte, wäre ihr Ende
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