Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
besiegelt.
»Und was ist, wenn er sich vor dem Nickerchen erst einmal richtig satt essen will?«
»Ich glaube nicht, dass er uns gleich fressen will, sonst hätte er uns schon umgebracht«, bemerkte Milo.
Schon wieder hatte seine Rolle als großer Bruder ihn dazu gebracht, eine Antwort zu geben, an die er nicht glaubte. Wie sollte er Bonne sagen, dass es keine Rettung geben würde?
»Du meinst, er möchte, dass wir vorher noch seine Höhle aufräumen. Klingt nicht sehr plausibel. Wahrscheinlich hat er uns noch nicht die Hälse umgedreht, weil er gern Frischfleisch mag. Was hältst du von dieser Erklärung?«
In Bonnes Stimme klang Verzweiflung mit.
»Dann sage ich ihm, dass er dich zuerst fressen soll, weil du jünger bist«, keuchte Milo.
Dem Troll schien es nicht zu gefallen, dass sich sein Essen miteinander unterhielt. Schnaubend und grunzend, schleuderte er die beiden Halblinge umher, bis sie Ruhe gaben.
Bonne und Milo mussten hilflos mit ansehen, wie die Welt kopfstehend an ihnen vorüberzog. Der Troll verließ den Weg nach kurzer Zeit und marschierte mit seinen Gefangenen querfeldein. Hindurch zwischen mannshohen Farnen und unter niedrig hängenden Ästen hinweg, bahnte sich das Ungetüm seinen Weg tiefer in den Wald hinein. Milo fing gerade an, ihre hoffnungslos prekäre Lage zu akzeptieren und sich Gedanken über das weitere Schicksal zu machen – richtige Gedanken –, da verfiel der Troll in leichten Trab. Immer schneller begann er zu laufen, immer rascher zogen die Bäume vor seinen Augen vorüber, bis sie zu einem graubraunen Band verschwommen.
Milo hörte seinen Bruder vor Übelkeit keuchen. Er schien damit zu kämpfen, das morgendliche Frühstück wieder an den richtigen Platz zu bekommnen. Gerade als er dachte, das Schlimmste hinter sich gebracht zu haben, setzte der Troll zu einem gewaltigen Sprung an. Für einen kurzen Moment war er schwerelos, und er sah Bonne neben sich schweben. Milo konzentrierte sich darauf, das flaue Gefühl in seinem Magen zu bekämpfen, dann landete der Troll. Ein Ruck ging durch Milo, und es fühlte sich an, als würden ihm die Füße abreißen, der Magen in den Hals rutschen und seine Augen gegen die Schädeldecke klatschen. Doch nichtsvon dem geschah, stattdessen streifte er kurz mit der linken Gesichtshälfte den Boden, er spürte lange nasse Gräser auf der Haut. Bonne brüllte etwas, doch da war es auch schon zu spät.
»Nesselkraut!«
Milo spürte den stechenden Schmerz auf seiner Stirn und am linken Ohr. Erst wurde es kalt, dann heiß, und zum Schluss blieb das Gefühl von tausend kleinen Nadeln, die ihn in jede Hautpore stachen. Er merkte sofort, wie sein Ohr anschwoll. Dann meldete sich sein Magen zurück.
Bonne hatte nicht so viel Glück gehabt. Das Nesselkraut hatte ihn voll im Gesicht erwischt. Seine Augen tränten, und seine Haut war rot wie eine reife Tomate.
Der Troll verlangsamte sein Tempo wieder und trottete im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch. Schließlich – Milo schätzte die Zeit auf mindestens eine halbe Stunde – endete die unbequeme Reise, als ihr Peiniger mit ihm und Bonne in einem Höhleneingang verschwanden, der verborgen unter dem Stumpf einer entwurzelten Eiche lag.
Milo hatte damit gerechnet, dass Trolle ähnlich wie Bären in natürlichen Höhlen hausten, doch dieses Trollversteck glich eher einem gut geplanten Labyrinth aus Gängen, dessen einziger Bezug zum Natürlichen darin lag, dass es sich in der Erde verbarg.
Der Troll stampfte den dunklen Haupttunnel entlang, vorbei an zwei kleinen Kammern und einer schmalen Abzweigung. Dann tauchte er in das schummrige Licht einer Fackel ein, die nur spärlich einen größeren Raum erhellte. Er legte seine Beute wie zwei erlegte Hasen im hinteren Teil auf den Boden und ließ sich selbst in der Nähe des Eingangs nieder. Schnaubend betrachtete er seinen Fang und schien darauf zu warten, dass die Lebensgeister in die beiden kleinen Gestalten zurückflossen.
»Meine Augen«, stammelte Bonne, »ich kann nichts sehen, und meine Zunge fühlt sich an, als wäre sie ein riesiger Grießkloß.«
Milos Sicht funktionierte zwar blendend. Er bezweifelte aber, dass sein Bruder sich über den Anblick freuen würde, der sich ihnen darbot, wenn die Schwellung um seine Augen nachließ. Milo rieb sich die Füße, um das Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen und das Kribbeln zu vertreiben. Unter Schmerzen richtet er sich auf und blickte sich in dem Trollversteck um. Damit Bonne sich
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