Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
werden. Aber nein, du hast ja nichts Besseres zu tun, als auf das Gefasel eines alten Priesters zu hören.«
»Gefasel eines alten Priesters?«, wiederholte Milo ärgerlich. »Du sprichst von Meister Gindawell. Er war unser Dorfpriester. Er hat geholfen, uns auf diese Welt zu holen. Und soweit ich mich erinnere, hast du bis gestern immer noch herumgejault, dass du schuld an seinem Tod seiest. Eine Stück Blaubeerkuchen und ein paar beruhigende Worte von Othman, und du scheinst alles vergessen zu haben. Meister Gindawells letzte Worte sind für mich sicherlich kein Gefasel. Er lag im Sterben, und dennoch war ihm dieser Auftrag wichtig. Er hat seinen letzten Atemzug genutzt, um eine Nachricht an mich zu richten, und ich werde sie nicht entehren, indem ich sie als Gefasel abtue.«
»Reg dich nicht auf, Brüderchen«, sagte Bonne gelassen. »Ich werde dich ja begleiten. Aber du musst zugeben, dass es nicht sonderlich wahrscheinlich ist, dass wir unsere Mutter in Zargenfels finden. Glaubst du, Vater, Tante Rubinia und alle anderen in Eichenblattstadt haben uns jahrelang etwas vorgespielt? Glaubst du wirklich, sie haben an Mutters Grab gestanden, geweint und Blumen niedergelegt, obwohl sie wussten, dass sie nur weggegangen war? Und selbst wenn wir auf die größte Lüge unseres Lebens hereingefallen sind, was würde uns das helfen? Sie hätte uns nicht ohne Grund verlassen, ebenso wenig wie alle anderen es ohne Grund vor uns verheimlicht hätten. Wenn sie sich wirklich auf und davon gemacht hat, will ich gar nicht wissen, warum. Sie ist weg, nur das zählt.«
Natürlich klang es sehr unwahrscheinlich, dass ihre Mutter noch leben sollte, musste sich Milo eingestehen, doch es war der letzte Wille seines verstorbenen Meisters, dass er sie suchte. Außerdem schien es derzeit angebracht, möglichst weit weg von Eichenblattstadt zu sein, jedenfalls wenn man Bonne oder Milo Blaubeers hieß.
Die beiden Halblinge setzten ihren Weg schweigend fort. Milo und Bonne waren häufig nicht derselben Meinung – es gehörte zu ihrem brüderlichen Wettstreit dazu –, doch egal wie kontrovers ihre Ansichten waren, Milo war stets froh, wenn er Bonne in seiner Nähe wusste. Umgekehrt schien es genauso.
Es war bereits Mittag, als die beiden die Weggabelung erreichten. Nach Osten ging es direkt am Schwarzwassersee vorbei, nach Süden führte der Umweg um den See herum. Milo blieb stehen und musterte die Routen, ohne jedoch irgendetwas Auffälliges erkennen zu können.
»Was ist nun schon wieder los?«, stöhnte Bonne. »Du hast es doch vorhin selbst gesagt: Der Weg im Osten ist unpassierbar. Bist du etwa in den letzten Tagen nicht nass genug geworden. Ich für meinen Teil kann gut darauf verzichten, wieder mit tropfnassen Kleidern durch die Gegend zu rennen. Also schmink es dir gleich ab, wir nehmen die südliche Route. Komm schon.«
»Du hast doch gesagt, vielleicht gibt es dort ein Boot.«
»Und du hast argumentiert, wie unwahrscheinlich das ist«, stöhnte Bonne. »Meister Othman wird uns schon gut beraten haben.«
Milo konnte sich gerade noch zurückhalten. Es reizte ihn so sehr, diese zwei kleinen Worte zu sagen. Zwei Worte, die jede weitere Diskussion überflüssig machen würden: Wetten, dass … ich auf dem östlichen Weg Zargenfels schneller erreiche als du auf der südlichen Route.
Es war wie das zwanghafte Verlangen, sich zu kratzen, wenn es irgendwo juckte. Aber in diesem Fall wäre eine Wette schlicht und ergreifend dumm und verantwortungslos gewesen. Der Düsterkrallenwald war kein Ort für kindische Spielereien. Es war so schon gefährlich genug, den Wald zu Fuß zu durchqueren. Außerdem hatte Bonne mal wieder Recht: Er hatte wirklich genug von nassen Klamotten.
»Nein, ist schon gut, ich komme«, sagte Milo, obwohl es ihm wahrlich schwerfiel. »Wir sollten uns ranhalten, in fünf oder sechsStunden wird es bereits dunkel. Bis dahin sollten wir einen geeigneten Lagerplatz gefunden haben.«
»Geeignet ist ein Bett mit einer weichen Daunendecke. Das Wort, das du suchst, ist notdürftig.«
Sie befanden sich mittlerweile im Herzstück des Waldes, wo die Bäume am höchsten wuchsen. Uralte Eichen mischten sich mit Rotbuchen und Ahorn. Was am Boden noch einen recht geordneten Eindruck machte, endete oben im Blätterdach im Chaos. Weit verzweigten sich die Äste und ragten in die Kronen der benachbarten Bäume hinein, im ewigen Kampf um das Sonnenlicht. Am Boden lebte nur das, was mit den spärlichen Resten auskam
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