Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
oder sich auf andere Art Kraft zum Leben suchte. Verholzter Knöterich und ein Netz aus Efeuranken erhoben sich aus dem wilden Dickicht aus Farnen und kletterten an den dicken Stämmen empor. Jedes freie Plätzchen am Boden wurde von Moos und kleinen Pilzkolonien ausgefüllt. Einzig und allein der Weg, der selten breiter war, als von einem Karren benötigt wurde, konnte sich gegen die wuchernde Natur erwehren. Wie ein Streifen vergifteter Erde zog er sich als braunes Band durch den Wald. Jeder Schritt, jedes Krachen eines morschen Astes hallte durch die Stille und wurde hundertfach zurückgeworfen. Es schien fast so, als wolle dieser Ort an die lang zurückliegenden kriegerischen Zeiten erinnern, als Thyrus hier seine Truppen zum letzten Gefecht sammelte. Zwanzigtausend Männer hatten sich in diesem Wald verschanzt, eingekesselt von mehr als fünfmal so vielen Soldaten aus den umliegenden Königreichen. In den ersten drei Tagen der Schlacht fielen ebenso viele Männer den Angriffen zum Opfer wie Blätter im Herbst von den Bäumen. Am fünften Tag war die Schlacht für Thyrus verloren. Noch am gleichen Tag ließ ihn ein Tribunal enthaupten.
Dann und wann blieben Bonne und Milo einen Augenblick stehen und lauschten. Für diesen kurzen Moment der Ruhe und des Friedens schien es, als wenn sie mit dem Wald verschmolzen und ein Teil von ihm wurden, anstatt Eindringlinge zu sein.
Bonne griff in seine Tasche und holte eine Scheibe Steinbrot heraus. Die kleinen tellerförmigen Fladen waren eine Spezialität der Halblingsküche. Der Teig aus Roggenschrot und Weizenmehl wurde zu runden, flachen Laiben geformt, dann mit einer Mischung aus verschiedenen Körnern und Nussstücken bestreut und anschließend in der Sonne getrocknet.
»Du auch?«, fragte Bonne und hielt seinem Bruder die Scheibe Steinbrot hin.
»Eine Ecke reicht mir«, erwiderte Milo und brach sich ein Stück ab. Ein lautes Krachen hallte durch den Wald, das die beiden Halblinge zusammenzucken ließ.
Verwundert sah Bonne auf den Rest Steinbrot. Er nahm es in beiden Hände und brach es erneut durch. Das Geräusch war kaum zu hören.
»Okay«, schnaubte er, »wenn wir jetzt einmal davon ausgehen, dass wir hier allein im Wald sind und um uns herum nur Vögel, Hörnchen, Hasen und anderes Kleingetier zu finden sind, dann stellt sich mir die Frage: Wie groß kann so ein Hörnchen werden?«
»Nicht groß genug, um einen Ast so lautstark brechen zu lassen«, flüsterte Milo.
Bewegungslos betrachteten die beiden den Wald um sich herum, so weit der Augenwinkel es zuließ.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Bonne seinen Bruder, ohne dabei die Lippen zu bewegen.
Ein weiteres Mal zerbarst Holz mit einem lauten Krachen. Es klang, als wäre irgendwo nicht weit über ihnen ein dicker Ast von einem Baum abgerissen worden. Hinzu gesellte sich ein tiefes erbostes Grollen.
»Lauf!«, brüllte Milo, nachdem er bereits drei Längen Vorsprung hatte.
Bonne ließ das Steinbrot fallen und rannte seinem Bruder hinterher. Ohne sich umzudrehen, preschten die beiden den Weg entlang. Barfüßig gruben sich ihre Zehen in den lehmigen Waldboden. Der Untergrund war zwar noch glitschig vom Regen, dochdafür war er ebenmäßig und flach. Solange sie auf dem Weg blieben, würden sie nicht entkommen können, doch unter den Augen eines etwaigen Verfolgers in den umliegenden Farnen abzutauchen, versprach auch wenig Aussicht auf Erfolg. Sie mussten die nächste Anhöhe erreichen, hinter der sie kurz außer Sicht verschwanden, um sich dann unbemerkt ins Unterholz zu schlagen. Doch wie es im Leben manchmal so war: War man des Marschierens eigentlich schon überdrüssig geworden, folgte Hügel auf Hügel, doch wenn man mal einen suchte, weil man ihn brauchte, war alles flach.
Bonne und Milo hörten, wie hinter ihnen weitere Äste brachen – Äste von der Stärke eines Armes. Zuerst schien es, als würden sie ihren Vorsprung vergrößern, doch dann kamen die Geräusche schnell näher. Sie konnten die Schritte in ihrem Rücken spüren, wie sie dumpf und in immer kürzerem Abstand auf den Waldboden einhämmerten. Hinzu kam ein röchelndes Schnaufen wie von einem Bullen.
Milo betete zu Cephei. Er flehte sie förmlich an, ihm lediglich ein harmloses Huftier, am besten ein entlaufenes Stalltier, als Prüfung zu schicken. Leider war der Düsterkrallenwald nicht gerade für seine freilaufenden Kühe bekannt. Wahrscheinlich weil sie schon auf den ersten hundert Schritt zu Proviant von etwas wurden,
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