Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
locken – erfolglos. Auch zwei Waschbärenmännchen,die um einen Granatapfel stritten, konnten ihn nicht erheitern, und das bunte Herbstlaub würdigte er nicht eines einzigen Blickes.
»Wir sollten einen Platz für die Nacht suchen«, sagte sie. »Macht es dir etwas aus, mit mir hinten auf dem Karren zu nächtigen?«
»Ich bleib lieber hier sitzen«, knurrte Aschgrau angewidert, als wenn sie ihm ein unmoralisches Angebot gemacht hätte.
Rubinia wollte das Missverständnis, wenn es denn eines war, gerade richtigstellen, da fügte Aschgrau hinzu: »Es ist besser, wenn ich Wache halte.«
»Du hast Recht«, sagte sie. »Wenn ich dich ablösen soll, weck mich einfach.«
»Ich werde wach bleiben«, knurrte er, und diesmal hörte sie einen Unterton der Belustigung heraus.
Rubinia musste feststellen, dass es ihr tatsächlich besser gefiel, wenn der Tunnelgnom den Mund hielt. Lieber langweilte sie sich zu Tode, als dem mürrischen Gemaule zuzuhören. Sie freute sich auf den Besuch bei ihrem Bruder, auch wenn der Anlass sehr traurig war. Zurück ins Heimatdorf zu kommen und die Familie in die Arme zu schließen war besser als jeder Blaubeerkuchen mit Vanillesoße, und sie war nicht gewillt, sich diese Vorfreude von einem mies gelaunten Tunnelgnom versauen zu lassen.
Rubinia fuhr ein Stück weiter, bis sie eine riesige Eiche entdeckte, die genug Schutz bot, falls es wieder zu regnen begann. Sie lenkte den Karren vom Weg herunter und machte neben dem knorrigen Stamm des mächtigen Baumes halt. Das Maultier begann sofort, an den langen Grasbüscheln zu zupfen, und wackelte vergnügt mit den Ohren. Rubinia kletterte nach hinten, rollte die alte braune Decke aus und machte es sich gemütlich.
So unheilvoll der Düsterkrallenwald auch sein konnte, mit seinen finsteren Geschichten aus vergangenen Tagen, so beruhigend und friedlich war er auch gelegentlich. Es dauerte nicht lange, und Rubinia war eingeschlafen.
Der Mond war nur als blasser Schein hinter der dichten Wolkendecke, die zäh am Himmel hing, zu erkennen. Ein toter Ast ragte weit über Rubinia in das Hellgrau hinein und schien nach dem Nachthimmel greifen zu wollen. Sie brauchte einen Moment, um sich zu besinnen, wo sie war. Dumpfes Grollen übertönte den leisen Wind, der durch die Blätter strich. Rubinia schob eine Hand unter der Decke hervor. Sie betastete die rauen und leicht klamm gewordenen Bretter des Karrens. Sie drehte die Handfläche nach oben und wartete einen Moment. Nichts war zu spüren. Nur ein leichtes Rauschen auf den Blättern des Waldes war zu hören. Vielleicht schaffte es der Regen noch nicht, das dichte Blätterdach zu durchdringen. Rubinia warf die Decke von sich, rieb sich die Augen und setzte sich auf.
»Wir sollten machen, dass wir weiterkommen, vielleicht zieht das Unwetter über uns hinweg«, sagte sie, noch halb schlaftrunken.
»Psst«, zischte Aschgrau.
Rubinia drehte sich zu dem Tunnelgnom um. Er sah in ihre Richtung, aber über ihre Schulter hinweg ins Dunkel des Waldes hinein. Seine Augen waren zwei trübe runde Scheiben. Weder leuchteten sie, noch spiegelte sich etwas darin. Sie waren wie zwei Flecken schmutzigen Schnees in der Nacht.
»Dort«, sagte er plötzlich und zeige in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Unaufhörlich grummelte und donnerte es.
Rubinia starrte in den dunklen Wald. Gerade wollte sie fragen, auf was Aschgrau sie aufmerksam machen wollte, da brach für einen Moment der Himmel auf, und der Mond sandte seinen fahlen Schein zwischen Ästen und Blättern hindurch zur Erde.
Keine hundert Schritt von ihnen entfernt zog eine dunkle Prozession aus Karren, Wagen, Reittieren und schemenhaften Gestalten an ihnen vorbei. Trotz des nur spärlichen Lichts erkannte sie sofort, dass es nicht nur ein Händler mit ein oder zwei Wagen war oder eine Familie, die sich im Wald verirrt hatte, sondern einganzer Tross. Das Grollen und Donnern kam nicht von einem aufziehenden Gewitter. Es waren die Räder von Karren, die sich über Baumwurzeln mühten, das Knarren von hölzernen Wagen und das Poltern von Kisten und Truhen auf den Ladeflächen.
»Wer sind die?«, flüsterte Rubinia. »Warum hast du mich nicht geweckt?«
Aschgrau starrte noch einen Moment weiter über sie hinweg, bevor er antwortete: »Es sind nur Zwerge.«
Rubinia versuchte, einen erneuten Blick zu erhaschen. Der Tunnelgnom hatte Recht, es waren Zwerge. Ob jedoch das Wort ›nur‹ richtig gewählt war, bezweifelte sie. Die Zwerge in Graumark waren
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