Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
zerrissenen weißen Hemd zu ihren Füßen kauerte.
Rubinia streckte eine Hand aus, um sich zu vergewissern, dass es sich nicht um ein Trugbild handelte. Doch eh ihre Finger den Stoff berühren konnten, wurde die Kapuze zurückgerissen, und Rubinia starrte in das verängstigte Gesicht eines jungen Halblingsmädchens. Umso verblüffter war sie, als das junge Ding sie barsch angiftete.
»Fahrt endlich los, oder wartet ihr darauf, dass es hell wird. Wenn sie uns in die Finger bekommen, werden sie uns die Haut in Streifen vom Leib ziehen. Dorimbur versteht keinen Spaß, wenn seine Gefangenen flüchten.«
Rubinia wollte widersprechen, doch als der Armbrustbolzen sich in die Rückwand des Karrens bohrte und das Holz so weit durchschlug, dass die scharfe Jagdspitze nur eine Handbreit von ihrem Knie entfernt aus dem Brett ragte, entschloss sie sich, nicht länger zu zögern. Sie waren entdeckt worden, jedes Versteckspielwar nun obsolet. Mit einem Satz war sie vorn auf der Bank, löste die Zügel, griff sich die kurze Gerte und ließ sie mit einem peitschenden Knall auf das Hinterteil des Maultieres niedersausen.
»Lauf, Malwin!«, schrie sie. »Lauf um dein Leben, wenn du nicht als Pökelfleisch im Proviantwagen dieser Zwerge enden willst. Lauf!«
Sie gab dem Tier noch einen kräftigen Klaps mit der Gerte, aber Malwin schien schon verstanden zu haben. Mit einem Ruck fuhr der Karren an und holperte über einige Wurzeln. Aschgrau verlor das Gleichgewicht, kippte über die niedrige Rückenlehne und landete mit einem Ächzen hinten auf der Ladefläche bei dem Halblingsmädchen.
Ein zweiter Bolzen krachte in den Stamm der alten Eiche.
Es gab Geräusche, die ließen das Herz für einen Moment aussetzen. Obwohl man sie noch nie zuvor gehört hatte, wusste man, woher sie stammten, und man betete darum, sie nicht noch einmal hören zu müssen. Ganz oben auf dieser Liste stand das Fauchen eines Drachen, gefolgt vom Schrei eines Sterbenden, und die Liste endete mit solchen Dingen wie dem Überkochen der Milchsuppe oder dem Zerschellen eines guten Tellers auf dem Boden. Doch irgendwo mittendrin gab es auch das Geräusch eines Armbrustbolzens, wie er sich tief in Holz grub und der Schaft bösartig vibrierte.
»Haltet die Köpfe unten!«, rief Rubinia ihren zwei Begleitern zu, während sie die Zügel schwang.
Der Karren wie auch das Maultier waren nicht geeignet, um damit ein Wettrennen zu veranstalten, doch Rubinia tröstete sich mit dem Gedanken, dass Zwerge ebenso wenig zu den guten Läufern gehörten. Mit etwas Glück konnten sie einen Abstand herausfahren und hinter einer Biegung oder einem Hügel aus der Sicht der Verfolger verschwinden. Da Zwerge keine besonders guten Fährtenleser waren, würden sie die Verfolgung danach hoffentlich bald aufgeben.
Ein weiterer Bolzen bohrte sich in das Holz des Karrens. Diesmal steckte er in der Rückenlehne des Kutschbockes und hatte das Brett auf der ganzen Länge gespalten.
Etwas mehr Wucht, und es hätte Malwin erwischt , dachte Rubinia, oder etwas weiter rechts, dann hätte er … Rubinia unterdrückte den Gedanken schnell wieder und konzentrierte sich auf den schmalen Pfad vor sich.
Das Mondlicht mit seinen Schatten spielte ihr immer wieder Streiche. Für kurze Momente erhellte sich der dunkle Wald, in denen sie versuchte, die Route so weit einzusehen, wie ihr möglich war, um Hindernisse oder Abzweigungen rechtzeitig auszumachen. Dann wurde es wieder stockfinster, und Rubinia lenkte den Karren aus der Erinnerung des Erhaschten. Wenn dann der Mond am Himmel erneut zwischen den Wolken hervorstach, war es, als hätte der Weg seinen Lauf geändert. Einige Male musste sie die Zügel herumreißen, weil sie mit einem Rad bereits im dichten Grün steckte oder direkt auf einen Baum zuraste. Ihr Herz schlug im Takt mit Malwins Hufen, die auf den Waldboden trommelten.
»Sind sie noch hinter uns?«, rief Rubinia.
Es dauerte, bevor sie eine Antwort bekam, doch dann meldete sich das junge Halblingsmädchen: »Ich kann sie nicht sehen, und ich bitte Cephei inständig, dass es diesen verdammten Tunnelbuddlern mit uns genauso geht.«
Diese Antwort hätte auch ein Elf geben können , dachte Rubinia. Sie fragte sich, was das Mädchen getan haben mochte, dass man sie gefangen genommen hatte. Es schien auf jeden Fall etwas zu sein, das die Zwerge dazu veranlasste, sie töten zu wollen. Für einen einfachen Dieb würden sie sich niemals die Mühe machen, zu laufen. Ein paar Bolzen abzuschießen
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