Der Duft der grünen Papaya
verschütteten Tee auf dem Tisch. »Ein Missgeschick?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte Evelyn zögerlich. »Ein Missgeschick.«
Überwältigend!
Das war das erste Wort, das Evelyn einfiel, als sie aus Anes Jeep stieg. Vor ihr erstreckte sich sattgrüner Rasen von der Größe eines halben Fußballfeldes, umsäumt von Fliederbüschen, gelben Rosen und Riesenfarnen. Ginstersträucher wuchsen in Abständen auf der hügeligen Fläche, die sanft zur Küste abfiel, und die Bucht war von einer Kolonie schlanker, teils lustig verbogener Kokospalmen verdeckt. Das Meer war von hier aus nur eine rauschende Ahnung, doch manchmal blitzte vom Wasser reflektiertes Sonnenlicht zwischen den Stämmen hindurch. Das Haus selbst verdiente seinen Namen zu Recht. Der Papaya-Palast war gewiss zehnmal größer als die Häuser, die Evelyn auf der Fahrt hierher in den Dörfern gesehen hatte. Er bestand nur aus dem Erdgeschoss und hatte eine lang gestreckte, rechteckige Form. Von drei Seiten abgeschirmt von Bäumen und Sträuchern, fügte er sich wunderbar in die üppige Landschaft ein. Obwohl er stark an die samoanische Bauweise erinnerte, vollständig aus dunkelbraunem Holz gebaut und mit einer dicken Schicht getrockneter Palmwedelblätter abgedeckt war, schien er dennoch einen kolonialen Einschlag zu haben. Die Pfosten, welche die Überdachung rund um das Haus stützten, ragten, anders als bei den üblichen samoanischen Konstruktionen, zu viert aneinander gebunden auf, was sie eher wie Säulen erscheinen ließ. Jede dieser Säulen war mit Kokosfaser umwickelt, und an jeder zweiten rankten sich orangefarbene oder dunkelrote Bougainvilleen empor, deren Verästelungen bis zum Dach reichten und bei jedem Luftzug munter wippten.
Insgesamt, resümierte Evelyn, wirkte das Anwesen wie die Südseevariante einer prächtigen Villa.
»Sie müssen sehr froh sein, hier zu leben«, sagte Evelyn, ohne den Blick vom Gebäude zu nehmen.
»Es ist nett«, seufzte Ane. »Jedenfalls schöner als die offenen Hütten, die hier sonst stehen.«
Evelyn war aufgefallen, dass die Samoaner ihre Häuser rund und offen bauten, ohne Wände und Türen, was bedeutete, dass jeder Einblick in das Familienleben der Nachbarn bekommen konnte. Zwar gab es Matten, die wie Rollos heruntergelassen werden konnten, aber sie deckten nur die Intimbereiche ab, das übrige Haus blieb offen. Der Papaya-Palast hingegen hatte zwar einen offenen Mittelteil, durch den man bis zur Rückseite des Hauses blicken konnte und der den rechten und linken Flügel voneinander trennte. Die beiden Flügel jedoch waren mit Wänden und Türen versehen.
In der rechten Flanke öffnete sich eine Tür, und eine Frau trat heraus. Evelyn schätzte sie auf Mitte siebzig. Sie war füllig, aber nicht dick, und obwohl sie ihre schwarzgrau melierten Haare wie ein Schneckenhaus hochgesteckt trug, war sie einen halben Kopf kleiner als Evelyn. Die Farbe ihrer Haut erinnerte eher an die von Spaniern oder Griechen als an das Bronze der Einheimischen. Noch irgendetwas anderes an ihr wirkte europäisch, doch Evelyn konnte auf die Schnelle nicht bestimmen, was es war.
»Großtante«, sagte Ane und ging auf sie zu. »Darf ich dir Evelyn vorstellen. Ich habe sie getroffen, als sie auf der Suche nach einem Zimmer durch Apia irrte.«
Evelyn fand diese Beschreibung reichlich übertrieben. Sie war nicht durch Apia geirrt , sondern hatte Tee in einem Luxushotel getrunken, als sie Ane begegnet war. Aber ihr kam der Gedanke, dass die alte Großtante vielleicht erst überzeugt werden musste, einen Gast aufzunehmen, und da Evelyn nicht die Absicht hatte, zum zweiten Mal an diesem Tag einen Ort, der ihr gefiel, zu verlassen, grinste sie lieber verschmitzt zu der dramatischen Erklärung Anes, als ihr zu widersprechen.
»Alle Hotels sind ausgebucht, stell dir das vor«, fuhr Ane fort. »Irgendeine Konferenz. Und Evelyn hat kein Zimmer reserviert. Ich weiß, du wolltest eigentlich niemanden aufnehmen, aber was hätte ich tun sollen, als sie mich ansprach? Natürlich habe ich sofort an dein Gästezimmer gedacht.«
»Natürlich«, erwiderte die Großtante und bedachte Ane mit einem halb ärgerlichen, halb nachsichtigen Blick. Dann reichte sie Evelyn die Hand und lächelte.
»Ich bin Ili Valaisi«, stellte sie sich selbst vor. »Einfach Ili für Sie. Und jetzt gehen wir erst einmal hinein. Ich zeige Ihnen, wo Sie wohnen werden.«
Evelyn blickte noch einmal zur verschlossenen Tür ihres Gästezimmers, bevor sie den Koffer
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