Der Duft der grünen Papaya
Zugucken allein war er am Abend erschöpfter als die Erntearbeiter. Trotzdem hatte er bereits dreimal bei ihr logiert. Natürlich immer zur Erntezeit.
Aber eine Alkoholikerin war noch nie bei ihr untergekommen.
»Auch das noch!«, murmelte sie vor sich hin.
Sie hatte sofort den Weingeruch im Gästezimmer bemerkt, an sich noch nichts Ungewöhnliches. Viele Gäste stießen mit mitgebrachtem Sekt oder Wein auf einen schönen Urlaub an oder genehmigten sich einen Gin. Der Unterschied zwischen all diesen Leuten und Ilis neuem Gast war, dass die anderen ihre Spirituosen nicht versteckten, was Evelyn sehr wohl getan hatte – der Flaschenhals lugte unter der Decke hervor.
Ili stellte das Teewasser auf den uralten Gasherd und seufzte. Ane hatte aber auch ein Talent dafür, solche Leute ins Haus zu holen. Bestimmt war kein wahres Wort an dieser seltsamen Geschichte von der umherirrenden Frau, und Ane war es nur um ein paar Dollar gegangen. Aber nun war es eben so gekommen. Es war nicht Ilis Art, Gäste abzuweisen. Diese Evelyn war im Haus und sollte es auch bleiben, solange sie wollte. Das entsprach Ilis Verständnis von Gastfreundschaft.
Ebenso wie der Tee. Am ersten Tag lud sie Gäste stets zu einem Begrüßungsschwatz ein, und obwohl Ane schon
mehrmals gemeint hatte, diese Sitte sei überholt und würde die Gäste, die heutzutage Distanz schätzten, nur stören, ließ Ili nicht davon ab. Waren die Menschen denn untereinander so distanziert geworden, dass sie Herzlichkeit ablehnten? Sie mochte das nicht glauben.
Mit einem Topflappen schob sie die gusseiserne Kanne von der Flamme und brühte den Tee auf. Als sie gleich darauf die quietschende Tür des Backofens öffnete, strömte ihr der Duft von Butterteig und Orangen entgegen.
In diesem Moment erschien Evelyn in der Tür. Sie hatte ihre schulterlangen Haare gekämmt und das schicke Kostüm durch eine weiße Jeans und ein knallrotes T-Shirt ersetzt. Trotzdem sah sie noch immer ein wenig blass und desolat aus.
»Oh, da sind Sie ja!«, rief Ili. »Ich dachte schon, Sie würden den Weg nicht finden in dem großen Haus.«
»Ich bin einfach dem Duft nachgegangen. Das riecht ja köstlich, beinahe vertraut.«
»Ich habe uns ein paar Scones gemacht, mit geriebenen Orangenschalen gemischt.«
»Scones!«, rief Evelyn überrascht. »Die habe ich zuletzt in Oxfordshire gegessen, bei einem Urlaub vor etlichen Jahren. Wie kommen Scones von England nach Samoa?«
»Über Neuseeland, vermutlich. Die Neuseeländer essen so gut wie alles, was Briten essen, und Samoa war bis vor vierundvierzig Jahren neuseeländische Kolonie, wissen Sie.«
»Das erklärt, warum so viele Samoaner perfektes Englisch sprechen, Sie eingeschlossen, Ili. Ich wunderte mich schon. Bei uns in Deutschland können gerade mal die Hälfte der Leute ein passables Englisch, dabei liegen wir viel näher an der Insel.«
Ili unterbrach das Umgießen des Tees und warf einen irritierten Blick auf Evelyn.
»Deutschland? Ihr Vorname … Ihre fließende Aussprache … Ich dachte tatsächlich, Sie seien … Eigentlich dachte ich gar nichts, aber dass Sie Deutsche sind, darauf wäre ich nie gekommen.«
Ili hatte erst ein einziges Mal Deutsche beherbergt, ein nettes, doch sehr schweigsames Ehepaar aus einem Ort namens Flensburg. Leider hatte sie keine wirkliche Beziehung zu ihnen aufbauen können, obwohl sie sich das sosehr gewünscht hatte. Alles, was mit Deutschland zusammenhing, interessierte sie.
Sie war zur Hälfte eine Deutsche.
Ich muss auf andere seltsam wirken, dachte Ili, als sie sich zusammen mit Evelyn auf den Boden der Veranda setzte und alle Dinge um sich herum platzierte, die zu einer britischen »Teatime« gehörten. Ein Teil von ihr, wohl der größte, war immer schon samoanisch gewesen, was sich an tausend Kleinigkeiten zeigte. Sie saß ungern auf Stühlen, sondern machte es sich stets auf den traditionellen Matten aus geflochtenen Palmblättern bequem, und zur Erfrischung trank sie am liebsten kava , das für alle Menschen außer Samoaner einfach nur nach gepfefferter Seife schmeckte. Sie liebte die bunten samoanischen Tücher, die man sich locker um den Körper wickelte, das ungesalzene, mit ein wenig Meerwasser beträufelte Essen, das man im Erdofen im eigenen Saft schmoren ließ, den Rhythmus von Trommeln und klatschenden Händen und die Blumengirlanden, die Frauen wie Männer sich aus reiner Freude am Duft um den Hals legten. Früher, als sie noch jung war, hatte sie die typischen
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