Der Duft der grünen Papaya
sie anzunehmen. Ich war wütend auf sie, weil ihres Rachedurstes wegen der Stein erst ins Rollen gebracht worden war, der uns die Heimat kosten soll. Als sie anfing, von Tupu, Tristan und Ivana zu sprechen und dass sie und ich wegen all des Hasses von Anfang an keine echte Chance gehabt hatten, da habe ich urplötzlich die Möglichkeit gesehen, ihr einen kleinen Schlag zu versetzen. Ich spürte ihre Verletzbarkeit – und nutzte sie unverschämt aus. Ich ließe diese vermeintlich schlechten Voraussetzungen
nicht gelten, habe ich gesagt, und mit diesen letzten Worten schlug ich die dargebotene Versöhnung aus. Sie drückte mir die Kerze in die Hand und verschwand.«
»Sie konnten doch nicht wissen, dass es das letzte Mal sein würde, dass Sie sie lebend sahen.«
»Natürlich nicht. Aber hätte ich es gewusst, ehrlich, Evelyn, ich weiß nicht, ob ich nicht genauso gehandelt hätte. Wir waren so sehr daran gewöhnt, einander zu quälen.«
So gesehen, dachte Evelyn, hätte Moana keinen klügeren Schachzug machen können, um Ili eins auszuwischen, als ihr testamentarisch allen Besitz zu hinterlassen, sie damit Selbstvorwürfen auszusetzen und ihr die alleinige Verantwortung für den Verlust des Landes zuzuschieben. Doch Evelyn verdrängte diesen Gedanken schnell, der ihr umso peinlicher war, als sie noch immer vor dem Grab der Toten stand.
»Es ging ihr schlecht«, fügte Ili hinzu. »Ihr Kopf zitterte. Ich hätte sie beruhigen müssen, stattdessen regte ich sie noch weiter auf. Wer sagt mir, dass ihr Herz nicht meinetwegen stehen geblieben ist?«
»Was Sie an jenem Abend zu Moana gesagt haben, war weit harmloser als das, was Moana neulich Ihnen zugerufen hat, Ili. Sie hätten ebenso gut tot umfallen können, hundertmal schon, nach allem, was Sie mir erzählt haben. Ich stehe nur ungern hier vor dem Sarg und spreche es so deutlich aus, aber Moana war nicht wie Sie, Ili. Moana würde nie voller Selbstzweifel vor Ihrem Grab stehen und die Vergangenheit kritisch betrachten. Sie hat ihre Mutter Ivana an Niedertracht noch übertroffen, hat Senji in den Tod getrieben, hat Atonio gegen Sie aufgehetzt, und nur weil sie vor zwei Tagen eine magere Entschuldigung gemurmelt und Ihnen eine Kerze in die Hand gedrückt hat, sollten Sie nun nicht anfangen, alle Schuld bei sich selbst zu suchen.«
»Aber ich habe ihr Senji weggenommen.«
»Man kann niemandem einen Mann wegnehmen, wenn der es nicht auch will. Sie gehörten zu Senji, und er gehörte zu Ihnen. Wie hätten Sie auch sonst jahrelang glücklich zusammenleben können, trotz der schwierigen Umstände!«
So als wollte Ili ihrer verstorbenen Rivalin und Cousine den Schmerz ersparen, dass an ihrem Sarg über Senji gesprochen wurde, trat Ili vom Grab zurück, hakte sich bei Evelyn ein und ging ganz langsam an den beinahe identisch aussehenden, weißen Holzkreuzen des Friedhofs vorüber, die von Orchideen und Azaleen umgeben waren.
»Erinnern Sie sich noch«, fragte Ili, »was ich Ihnen über Atonio gesagt habe? Diese unnützen Streitereien über Obstsorten, Anbauflächen und Absatzmöglichkeiten?«
»Sie hatten sehr gute Argumente gegen seine Vorschläge, und Sie haben Recht behalten, was den Kaffee angeht.«
»Ja, ich hatte die besseren Argumente, aber das war nicht der einzige Grund für meinen Widerstand gegen seine Ideen, vielleicht nicht einmal der wichtigste. Die Wahrheit ist: Ich habe es genossen, mit ihm zu streiten, nachdem er sich verändert hatte. Das war für mich mindestens ein ebenso guter Grund wie die sachlichen Argumente. Er war Moanas einziges Kind. Ihm seine Träume zu verbauen hat mir gut getan. Ihn zu schlagen, hieß, sie zu schlagen. Evelyn, als ich Ihnen neulich an der Palauli Bay riet, meine Fehler nicht zu wiederholen, habe ich genau dieses Verhalten von mir gemeint: Rache. Ich rächte mich für Moanas Gemeinheiten während unserer Jugend, indem ich in der Wunde bohrte, die meine Heirat mit Senji bei ihr hinterlassen hatte, und sie rächte sich, indem sie Senji denunzierte, woraufhin ich wiederum versuchte, ihr Atonio zu entfremden, und als er Tupu immer ähnlicher wurde, mit Atonio zu streiten. Es war ein irrsinniger Kampf, der bis in Moanas letzte Stunden fortdauerte, und ich trage daran ebenso viel Schuld wie sie.«
Evelyn lächelte mild. Ilis Selbsteinschätzung erinnerte sie an ihre eigene vor einigen Jahren. Für alles hatte sie sich die Schuld gegeben, an jeder guten Absicht im Nachhinein noch einen schlechten Hintergedanken gefunden.
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