Der Duft der grünen Papaya
besaß noch genau ein Tala vierzig Sene.
Und eine geladene Waffe.
Schließlich hat Raymond Kettner also doch noch gewonnen, dachte Evelyn, als sie an Ilis Seite hinter dem einfachen Holzsarg herlief. Es war sieben Uhr am Morgen, und in fünf Stunden lief das Ultimatum der Regierung ab.
Natürlich fand Evelyn es nicht richtig, in dem Moment, wo jemand zu Grabe getragen wurde, an etwas ganz anderes zu denken, und daher war sie bemüht, sich auf die Predigt des Geistlichen zu konzentrieren. Allerdings gelang ihr das nur schlecht. Sie hatte Moana zu wenig gekannt, um über ihren Tod tief betroffen zu sein, beruhigte sie ihr Gewissen, und außerdem stand die weitaus größere Tragödie ja erst noch bevor. Sie machte sich ernsthafte Sorgen um Ili und überlegte andauernd, wie sie ihr in den nächsten Tagen helfen könnte, diesen völligen Umbruch ihres Lebens zu bewältigen.
Der Geistliche hatte seine Predigt abgeschlossen und verabschiedete sich von den Trauernden. Ili hielt sich an Evelyn fest. Viele Leute waren nicht gekommen, bemerkte Evelyn. Der alte Ben war da, dazu noch drei Frauen, die sich nach einem letzten, nicht sonderlich ergreifenden Gruß zusammen mit dem Reverend entfernten. Obwohl nun zu dritt allein auf dem kleinen Friedhof von Palauli, war es nicht einsam und still um sie herum. Die Natur war zu vollem Leben erwacht. Aus den umliegenden Wäldern
waren unzählige Geräusche zu hören, alles strahlte üppige, pulsierende Kraft aus. Evelyns Blick glitt über die tropischen Blumen. Sie schloss die Augen und blieb so stehen, Arm in Arm mit Ili.
Nach einer Weile trat der alte Ben einen Schritt heran. »Ich finde es nicht gut«, sagte er mit Friedhofsstimme, »dass Ane nicht gekommen ist. Moana war ihre Großmutter, hat immer für sie gesorgt, obwohl Ane es ihr nicht immer leicht gemacht hat. Ich finde das einfach nicht richtig.«
Auch Evelyn hatte schon an Ane gedacht. Zum letzten Mal hatte sie sie gestern im Garten des Papaya-Palastes gesehen. Ane war einem Gespräch mit ihr ganz offensichtlich ausgewichen und hatte auch das Angebot abgelehnt, ihr für etwaige Besorgungen den Wagen zu leihen oder sie zu begleiten. Was Evelyn vor allem beunruhigte, war der veränderte Ausdruck in Anes Gesicht.
»Sie muss ab jetzt allein zurechtkommen«, sagte Ili, und es hörte sich endgültig an. Sie wollte nicht länger über Ane nachdenken.
»Ich frage mich«, fuhr Ili fort, »ob Moana nicht genau zum richtigen Zeitpunkt gegangen ist. Versteht ihr, sie wollte nicht erleben, was uns bevorsteht, nicht verlieren, was uns seit der ersten Stunde gehört. Sie hat einen Fehler gemacht, und sie wusste es. Daran starb sie.«
»Ihr Herz war alt«, sagte Ben leise.
»Ja, es war alt. Und es hörte auf zu schlagen, als sie die Geister, die sie gerufen hatte, nicht mehr loswurde. Auch in dieser Hinsicht war sie Tupus Tochter.«
Ben übermannten die Gefühle, und er ging über den schmalen Kiesweg davon.
Ili sah ihm nach, dann schaute sie wieder in die Grube mit dem Sarg. »Erstaunlich, wie viel Trauer selbst ein Mensch wie Moana hinterlässt. Sie war stachelig, Evelyn, stachelig wie ein Dornbusch. Niemand kam je mit ihr zurecht,
weder ihre Schulkameradinnen noch ihre Lehrer, weder die Nachbarn noch die Geistlichen. Selbst der gutmütige alte Ben wurde von ihr nur geduldet, weil er der Lebensmittelhändler war und sie ihn brauchte. In den letzten Jahren hat sie, glaube ich, sogar ihre eigene Mutter Ivana gehasst, dafür, dass diese sie mit so viel unnötiger Bitterkeit voll gestopft hat. Moana hat sich trotz mehrerer Versuche nie von diesem beherrschenden Gefühl befreien können und es deswegen an jedem ausgelassen. Sie sehen ja, wie wenige Menschen zu ihrer Beerdigung gekommen sind. Und das Passende daran ist, dass Moana selbst es nicht anders hätte haben wollen.«
Evelyn stimmte mit dieser Einschätzung überein, und obwohl sie sich zuerst nicht traute, gab sie sich einen Ruck und fragte: »Ob sie wohl wollte, dass Sie zu ihrer Beerdigung kommen?«
Ili blinzelte amüsiert, bevor sie wieder ernst wurde. »Vor ein paar Tagen hätte ich Ihnen darauf eine klare Antwort geben können. Aber heute … Moanas Testament hat mich ebenso verwirrt wie ihr nächtlicher Besuch, kurz bevor sie starb. Verwirrt und beschämt.«
»Beschämt?«
Ili nickte. »Was wir viele Jahrzehnte lang nicht geschafft haben, hat Moana vor zwei Tagen versucht: Frieden zu schließen. Sie wollte mir die Hand reichen, aber ich – ich war zu stolz,
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