Der Duft der grünen Papaya
sehen, fühlen und dir die Bilder der Welt zeigen … Ich bin nicht mehr einsam, mein Schatz, ich habe dich wiedergefunden, und ich habe ein Leben wiedergefunden. Wir können nie auf eine normale Weise zusammen sein, doch meine Worte verbinden uns … Niemand wird je deinen Platz einnehmen, Julia, doch in einem Herzen darf nicht nur Platz für einen einzigen Menschen sein. Ich will mit dir lachen, mit dir singen, mit dir weinen. Und ich will alle Menschen, die das wollen, daran teilhaben lassen …
Plötzlich schlangen sich von hinten Carstens Arme um sie. Sie spürte seinen warmen Körper und brauchte sich nicht umzudrehen, um zu erkennen, dass er ihr näher war als seit langem. Er reichte ihr die Briefe, und sie drückte sie an die Brust.
»Du hast mir einen Schatz gegeben«, flüsterte er. »Etwas Großartiges.«
»Ja, ich weiß.«
»Würdest du diese Briefe jemals einem Menschen zeigen, den du – den du nicht liebst?«
Sie verneinte stumm.
Sein Atem strich über ihre Haare. »Und ich hatte schon geglaubt«, flüsterte er, »dass ich dich verloren habe, damals, zusammen mit Julia. Dass ich schlecht für dich bin.«
»Du bist nicht schlecht für mich«, widersprach sie. »Du, Carsten, du bist der Mensch, der mir fehlt.«
Sein Körper erzitterte, und sie merkte, dass er weinte.
Es war verrückt. Erst jetzt, vier Jahre später und am anderen
Ende der Welt, erkannte sie, dass sie im Grunde überhaupt nichts mehr von Carsten wusste, nichts über seine Gefühle, seine Ängste, seine Trauer. Sie hatte immer angenommen, dass er es leichter habe, mit allem fertig zu werden, vielleicht weil er ein Mann war. Doch das war ein Irrtum gewesen. Er hatte es nicht leichter gehabt. Er hatte, tief in sich drin und auf eine andere, aber nicht weniger intensive Weise, jeden einzelnen Tag genauso gelitten wie sie. Vielleicht war er vor vier Jahren von einer inneren Stimme gewarnt worden, dass der Verlust seines Kindes ihn in eine Hölle reißen würde, wenn er stehen blieb und zurückblickte. Also war er losmarschiert, und Evelyn war erstarrt. Für ihn war sie mit ihrer Verzweiflung wohl so etwas wie eine Bedrohung gewesen, immer dann nämlich, wenn sie über Julia sprechen wollte. Jetzt erkannte sie, dass das, was ihn früher ausgemacht hatte, was sie geliebt hatte, nicht verschwunden und nie verschwunden gewesen war.
Doch die eigentliche Prüfung stand ihnen noch bevor, und Evelyn wusste, dass jetzt die Zeit dafür gekommen war.
»Ich habe dir die Briefe an Julia gezeigt«, begann sie nach einer Weile, »aber ich will dir noch etwas anderes zeigen. Dies hier.« Sie deutete nach Westen auf die bewaldeten Hänge. »Das alles ist Ilis Land. Es ist reich und bunt, voller Mangroven, Rhododendren, Muskatbäume und Orchideen, ein Stück Urzeit, mit keinem Geld der Welt aufzuwiegen. Hier gibt es Vögel, die nirgendwo sonst auf der Welt leben, und das Land ernährt noch immer seine Bewohner. Keine Konservenfabriken, keine Fischereiflotten. Die Einheimischen angeln und jagen den größten Teil ihres Essens oder pflücken es von den Bäumen. Klingt wie ein Paradies, nicht wahr?«
Er nickte.
»In den ersten Tagen nach meiner Ankunft«, fuhr sie fort, »war diese Fülle an Leben mir beinahe unheimlich.
Ich habe sie bewundert, das schon, aber zugleich erschien mir diese lebendige Natur, die sich stets erneuert, wie eine Beleidigung. Meine Tochter war tot, mein Leben trostlos, doch hier grünte und leuchtete alles. Ich war neidisch. Da es mir schlecht ging, wünschte eine dunkle Stimme in mir, dass es anderen auch schlecht gehen müsse. Zum Glück war diese Stimme nicht sehr stark, doch ich denke, dass es vielen Menschen so geht, dass sie etwas zerstören wollen, weil in ihrem Leben etwas zerstört worden ist. Wer glücklich und mit sich im Reinen ist, nimmt anderen nichts weg, im Gegenteil, er gibt. Und da kommst du ins Spiel.«
Er wollte etwas sagen, aber sie war schneller. »Du und Ray Kettner. Allerdings interessierst du mich mehr, denn ich bin mit dir verheiratet und nicht mit Kettner.«
Ihr Ton wurde entschiedener. »Du hilfst dabei, den Regenwald zu fällen. Und was dann? Die Leute sollen deiner Meinung nach Kaffee anbauen. Von den erbärmlichen Gewinnen, die dabei für die Bauern abfallen, will ich erst gar nicht reden. Das eigentlich Dumme ist nämlich, dass Regenwaldböden nährstoffarm sind. Nach zwei bis drei Jahren gedeihen die Sträucher nicht mehr, und die Kaffeebauern sind genötigt, neue Flächen zu roden. Das
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