Der Duft der Rose
hageren Gesicht, stellte nur der Ebenholzstock mit dem Elfenbeinknauf ein Zugeständnis an seine mehr als siebzig Jahre dar. Er bewegte sich langsam, als müsse er jeden Schritt sorgfältig abwägen. Nicholas merkte, wie Ghislaines Blick zwischen ihnen hin- und herwanderte und wie sie blass wurde. Oh ja, sie wusste, wer der Marquis war, noch ehe der Mann den Mund geöffnet hatte. Jeder, der sie zusammen sah, wusste es. Und das machte es nicht leichter. Im Gegenteil.
Die hellen Augen des alten Manns streiften ihn und richteten sich dann auf Ghislaine. »Comtesse du Plessis-Fertoc, ich danke Euch für den Empfang zu so vorgeschrittener Stunde. Ich bin Julien de Vinçon.« Er verbeugte sich und hob die ihm gereichte Hand andeutungsweise an die Lippen.
»Willkommen, Marquis. Man sagte mir, Ihr wolltet Monsieur Levec, meinen Verwalter, sprechen?« Ihre Stimme zitterte nur ganz leicht, und einmal mehr bewunderte Nicholas sie für ihre Haltung.
»Ja, Madame, ich bin den weiten Weg aus der Bretagne gekommen, um mit Nicholas zu sprechen.« Ein Hustenanfall unterbrach seine Worte, und Ghislaine schob ihm fürsorglich einen Sessel entgegen, auf den er niedersank. Er zog ein großes Taschentuch aus der Tasche des Justaucorps und wischte sich damit über Augen und Mund.
»Willst du mir nicht wenigstens die Hand geben, Nicholas?«, fragte er dann.
»Nein.« Nicholas verschränkte die Arme vor der Brust. »Und ich will auch nicht mit Euch reden.«
»Du benimmst dich wie ein starrsinniger Dreijähriger«, tadelte der Marquis.
»Ich werde mich zurückziehen, Monsieur le Marquis, damit Ihr Eure Angelegenheit ungestört regeln könnt. Ihr entschuldigt mich?« Ghislaine wollte mit einem Lächeln den Raum verlassen, aber Nicholas schüttelte den Kopf. »Ich will, dass du bleibst. Du hast ein Recht dazu.« Er wollte, dass sie alles erfuhr, auch sein letztes, sein düsterstes Geheimnis. Das Geheimnis, von dem er gehofft hatte, dass er es nie enthüllen müsste.
Der Marquis kniff die Augen zusammen und blickte von einem zum anderen. Verachtung spiegelte sich in seinen Zügen. »So ist das also. Nun gut, es ändert nichts an den Tatsachen.«
Ehe Nicholas etwas einwenden konnte, fuhr er fort. »Ich werde den nächsten Winter nicht mehr erleben, das sagt zumindest mein Arzt. Meine Lunge will nicht mehr. Deshalb bin ich hier, um die Dinge ein für alle Mal zu regeln.«
Genau das hatte Nicholas befürchtet. »Wie habt Ihr mich gefunden?«
Der Marquis machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wofür hältst du mich, Nicholas? Für einen Idioten? Ich wusste immer, wo du bist, Nicholas. Meine Männer hielten mich auf dem Laufenden. Nach jeder Katastrophe und der folgenden Kündigung wartete ich darauf, dass du nach Hause kommst und endlich deine Pflichten wahrnimmst. Aber jetzt kann ich nicht mehr warten. Meine Zeit neigt sich dem Ende, darum komme ich dich holen.«
Nicholas fühlte eine Ader an seiner Stirn pulsieren. »Nach Hause? Mein Zuhause war eine verfallene Baracke, in die Ihr meine Mutter abgeschoben habt. In dieser Baracke starb sie an einer brandigen Wunde, weil Ihr Euch geweigert habt, einen Arzt kommen zu lassen. Ihr habt Euch weder um sie noch um mich gekümmert. Ihr habt nicht einmal meinen Namen gekannt, bis zu jenem Tag, an dem der letzte Eurer ehelichen Söhne nach einer durchzechten Nacht ertrunken aufgefunden wurde.« Der Hass machte seine Stimme heiser. »Ihr habt mich nicht als Euren Sohn anerkannt, als es für mich wichtig war. Und als Ihr es schließlich getan habt, geschah es nicht aus Sorge oder Zuneigung, sondern aus rein egoistischen Gründen - um einen Erben zu haben.«
Er verwandelte sich wieder in einen siebzehnjährigen Jungen und durchlebte noch einmal die Stunden, in denen seine Mutter einen qualvollen Tod gestorben war. Die Hilflosigkeit, mit der er an ihrem Lager gesessen hatte. Allein. Denn die anderen Dorfbewohner mieden sie, weil sie die Hure des Marquis gewesen war, und sie mieden ihn, weil jeder wusste, dass er der Bastard des Marquis war, der ihn niemals anerkannt hatte. Weder er noch seine Mutter zogen Privilegien aus der Situation. Der Marquis scherte sich nicht um sie. Der Dorfpfarrer hatte ihm Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht, dafür hatte seine Mutter die Kirche sauber halten und sich um den Blumenschmuck kümmern müssen. Das hatte sie Nicholas zumindest erzählt. Seit er erwachsen war, vermutete er, dass das beileibe nicht alles gewesen war, was sie hatte tun müssen. Und sein Hass
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