Der Duft der roten Akazie
Wenn es allerdings so weiterregnet, wird man für anderthalb Kilometer genauso lang brauchen.« Er hielt inne. »Wie ich schon sagte, bin ich unterwegs zu den Goldfeldern in Bendigo. Aber ich könnte Sie in einem der Gasthöfe an der Straße absetzen.« Jedoch schien ihm die Vorstellung nicht zu gefallen. Der Gedanke, unter Fremden zurückgelassen zu werden, löste eine starke Verlustangst in ihr aus, denn dieser Händler war für sie bereits jemand geworden, an den sie sich in dieser verwirrenden Welt klammern konnte.
»Vielleicht wollte ich ja auch zu den Goldfeldern«, wandte sie deshalb rasch ein.
»Nun, mag sein. Möglicherweise wurden Sie von Straßenräubern überfallen. Es wimmelt hier von diesen Halunken, die stets auf der Suche nach einem wehrlosen Opfer sind. Ihr Mann könnte Ihnen geschrieben haben, er habe einen großen Fund gemacht. Einige Goldgräber lassen ihre Frauen und Kinder nachkommen. Tragen Sie einen Ehering?«
Als sie die Hand hob und ihre Finger betrachtete, war da kein Ring. Allerdings wies der dritte Finger ihrer linken Hand eine helle Stelle auf, wo ein Ring gesessen haben konnte. Sie starrte darauf, bis ihr die Augen wehtaten, aber vergeblich. Ihr Gedächtnis weigerte sich hartnäckig, seine Geheimnisse preiszugeben.
»Sicher gestohlen«, stellte er mit finsterer Miene fest. »Nun, wenigstens haben wir jetzt herausgefunden, dass Sie Mrs Cinderella sind. Wenn Sie irgendwo einen Ehemann haben, wird er Sie sicher suchen. Ich würde es an seiner Stelle tun.«
Plötzlich war sie so müde, dass sie ihm kaum noch folgen konnte. »Sie dürfen mich nicht weiter so nennen«, murmelte sie und schloss die Augen. »Das ist kein richtiger Name.«
Also gab es Menschen, die sie liebten, und ein Zuhause, das ihr vertraut war. Deshalb erschien es ihr nicht richtig, dass sie mit einem Fremden im stillen, einsamen Busch saß. Vielleicht ist morgen ja alles wieder gut, sagte sie sich.
»Cinderella passt zu Ihnen«, durchdrang seine Stimme den Schlaf, der sich über sie senkte. »Bis sich alles aufklärt, werde ich Mrs Seaton zu Ihnen sagen. Schließlich wurden Sie an Seaton’s Lagune gefunden.«
Cinderella Seaton, ein Name, der so gut war wie jeder andere. Seine Stimme wurde immer leiser. Sie kuschelte sich in die warme Decke und schlief ein.
2
Als sie erwachte, dämmerte der Morgen, und ihre Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Ihr Schlaf war tief und erfrischend gewesen und hatte sie für den neuen Tag gestärkt. Während sie noch eine Weile dalag, wurde ihr klar, dass es sich, anders als am Vorabend erhofft, nicht um einen Traum handelte. Sie war tatsächlich allein und hatte ihre Vergangenheit vergessen. Diese Erkenntnis war zwar erschreckend, allerdings nicht so Angst einflößend wie in der letzten Nacht. Der Morgen hatte ihre Zuversicht geweckt. Neugierig sah sie sich um.
Die Lichtung war in fahles Sonnenlicht getaucht. In den Schatten waberten noch zarte Dunstschwaden. Der Händler machte sich am knisternden Feuer zu schaffen und hatte bereits einen Wasserkessel aufgesetzt. Er trug dieselben Sachen wie am Vortag – sie bezweifelte, dass er andere besaß – und war mit einer Hose aus weichem Baumwollstoff, einem blauen Wollhemd und einer warmen Jacke bekleidet. Seine Stiefel wirkten ziemlich abgetragen. Ihr fiel auf, wie lautlos er sich bewegte. Er war zwar nicht groß, aber kräftig gebaut und offenbar ziemlich muskulös. Außerdem schien er sich selbst zu genügen und behielt seine Gedanken meistens für sich. Ein wenig eigenbrötlerisch vielleicht. Und dennoch hatte er ihr geholfen.
»Hunger?«
Seine Stimme riss sie aus ihren Grübeleien. Hatte sie Hunger? Ein Magenknurren beantwortete die Frage. Er drehte sich um und grinste ihr, über die Schulter gewandt, zu. Die Sonne und harte Arbeit hatten Falten um seine Augen entstehen lassen, und der Bart verlieh ihm eine gewisse Reife, weshalb es schwierig war, sein Alter zu schätzen. Sie tippte auf Mitte bis Ende zwanzig.
»Ich habe Brot«, verkündete er. »Und Hammelfleisch.«
Das Brot entpuppte sich als ein in der Pfanne gebackener Fladen. »Danke«, sagte sie bemüht höflich.
»Wie geht es Ihrem Kopf heute?«
Vorsichtig betastete sie ihn. Unter dem Verband spürte sie die dicke Beule. Sie tat weh, und auch die Kopfschmerzen waren noch nicht verschwunden, hatten sich jedoch seit dem Vorabend sehr gebessert.
Der Händler hielt ihr einen Becher hin, der ihr fast die Hand verbrannte. Als sie ihn endlich an die Lippen führte, war der
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