Der Duft des Apfelgartens
auf, und sie sieht ihn stirnrunzelnd und beunruhigt an.
»Was könnte das denn sein?«, fragt sie. »Was für eine Lösung?«
Er schüttelt den Kopf, wie um seine Gedanken zu verscheuchen und ihre Ängste zu zerstreuen. »Kann ich Ihnen einen Kaffee kochen?«, erkundigt er sich. »Oder Tee?«
»Nein, ich muss zurück.« Mit einer einzigen schnellen, eleganten Bewegung steht sie auf. »Ich bin nur nach unten gelaufen, weil ich es endlich wieder konnte.« Sie lacht. »Bei dem ganzen Schnee bin ich mir da oben wie eine Gefangene vorgekommen.«
»Eine Gefangene?«, zieht er sie auf. »Ausgerechnet in Chi-Meur? Aber ich weiß schon, was Sie meinen. Wir hassen es, wenn uns Einschränkungen auferlegt werden, stimmt’s? Ob physisch oder emotional. ›Alles Unheil kommt von einer einzigen Ursache: dass die Menschen nicht in Ruhe in ihrer Kammer sitzen können‹, hat Blaise Pascal einmal geschrieben.«
Sie sieht ihn ratlos an. »Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass wir vielleicht zufriedener wären, wenn wir innere Freiheit statt physischer Flucht suchen würden. Wir können uns in unser Inneres wenden und unsere eigene Freiheit finden, ohne uns dabei auf andere Menschen oder Anregungen von außen verlassen zu müssen. Das ist wahre Freiheit.« Er steht ebenfalls auf. »Danke für die hübschen Blumen. Wir sehen uns dann am Sonntag, es sei denn, die Schwestern brauchen mich noch vorher. Ich weiß, dass Vater John sich diese Woche um sie kümmert.«
Janna eilt davon und denkt verwirrt über seine Worte nach. Ist es also verkehrt, dass sie in den Wind und die Sonne hinausrennen und in tiefen Zügen die salzige Meeresluft einatmen will? Oder hat Vater Pascal auf ihr Bedürfnis angespielt, sich der Verantwortung zu entziehen, und darauf, dass sie jedes Mal, wenn sie die ersehnte Sicherheit erreicht hat, in Panik gerät, weil das auch die Fesseln der Liebe, der Sorge und der Verpflichtung mitbringt? Vielleicht hat ihr Vater genauso empfunden. Komisch, dieser Gedanke macht sie auf eine seltsame Weise glücklich, beinahe hoffnungsvoll. Sie hat nicht mehr das Gefühl, ihn verachten zu müssen.
Mit leichtem, von Liebe erfülltem Herzen steigt Janna den Hügel nach Chi-Meur wieder hinauf.
Fastenzeit
Ende März: Sonnenlicht erfüllt den kleinen Raum und bringt das einfache Mobiliar und die weißen Wände zum Leuchten. Schwester Emily legt ein Buch zur Seite, greift erneut zu ihrem Federhalter und beginnt zu schreiben. Ihr kleiner Tisch, der unter dem Fenster steht, ist mit Seiten bedeckt, Briefen von Menschen, denen sie seit langer Zeit eine spirituelle Mentorin ist. Manche dieser Beziehungen reichen fast fünfzig Jahre zurück.
Bevor sie auf einen Brief antwortet, nimmt sie sich viel Zeit, in der sie nachdenkt, betet und liest, und ihre Korrespondenz neigt dazu, besorgniserregende Ausmaße anzunehmen. Trotzdem widmet sie jedem Brief die Zeit, die ihm zusteht, und lässt sich nicht hetzen. Heute Nachmittag hat sie beträchtliche Zeit damit verbracht, nach Bibelstellen zu suchen, bestimmten Passagen, die ihr in den Sinn gekommen sind, und so den Fortgang des Briefs unterbrochen. Der Verfasser ist ein Mann mittleren Alters, der zusammen mit seiner Frau vor zehn Jahren begann, regelmäßig nach Chi-Meur zu kommen. Damals wohnten die beiden als Selbstversorger im Pförtnerhäuschen und kamen manchmal zum Gottesdienst in die Kapelle, aber sie wanderten auch und erkundeten die umgebende Landschaft oder besuchten Padstow – das, was sie und die anderen Schwestern »heilige Ferien« nennen. Vor Kurzem ist die Frau gestorben, und seitdem kommt er allein und verbringt »Stille Tage« im Haupthaus, für die sie ihm als Mentorin zugeteilt ist.
Er ist ein guter Mann, dem das Schweigen schwerfällt. Er hat das Bedürfnis zu reden. Doch manchmal stellt sich heraus, dass das Sprechen das echte spirituelle Wachstum blockiert, und sie muss ihm, so freundlich wie sie kann, Einhalt gebieten. »Zu viele Worte«, entgegnet sie dann bestimmt, lächelt ihm zu und steht auf, um zu gehen. Er schreibt ihr häufig, und sie grübelt schon lange über seinen neuesten Brief nach. Darin geht es um einen Freund, der ebenfalls kürzlich jemanden verloren hat und dem er jetzt seinerseits beizustehen versucht. Nun glaubt sie zu erkennen, wie sie ihm raten kann.
Ich kann gut verstehen, dass Sie sich danach sehnen, sich in die schmerzhafte Erfahrung Ihres Freundes hineinzuversetzen, vor allem, da Sie selbst den gleichen schmerzlichen Verlust erlitten
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