Der Duft des Meeres
gesagt, er sei nicht bereit, ihr Leben für den Stein zu riskieren. Aber sie hatte seins riskiert, und sie trug die Schuld, dass er getötet worden war.
Camille drückte die Schultern durch und nahm Ira die Karte aus der Hand.
»Richtig. Lasst uns gehen.«
Camille eilte den Pfad entlang und die starke Steigung des Wegs ließ ihre Schenkel brennen. Ihre bestrumpften Füße berührten kaum den Boden. Hinter ihr schnauften Ira und Samuel, während sie versuchten, mit ihr Schritt zu halten. Oscar hatte sie einmal bezichtigt, wegen des Steins auf einem Kriegspfad zu sein. Er hatte nicht gewusst, wie nah diese Feststellung der Wahrheit gekommen war. Sie fühlte sich tatsächlich wie eine Kriegerin, eine, die auf Rache aus war. Mit jedem Schritt stellte sie sich den Umandu in ihren Händen vor. Die Karte hatte keine Beschreibung oder Abbildung, die einen Rückschluss darauf zuließ, wie der Stein aussah. Einfach ein Stern, der auf dem Gipfel des Steinhaufens blinkte – dem Endpunkt der gefährlichen silbernen Linie.
Warum konnte ihr Herz nicht sie beide wählen? Weil es zu einfach wäre, antwortete sie sich sofort selbst, und nichts an dem Fluch des Umandu war einfach. Ihr Vater war so lange ihre ganze Welt gewesen. Er hatte sie großgezogen, hatte sie geliebt und ihr alles gegeben. Ein Leben ohne ihn war unvorstellbar. Und doch war Oscar in der Nacht des Sturms zu ihr gerudert und hatte alles verändert, was sie je für ihn empfunden hatte. Es war nicht nur Begehren oder einfache Anziehung. Sie liebte ihn. Sie wollte ihn. Genau wie bei ihrem Vater war der Gedanke, ohne ihn zu leben, qualvoll.
»Dort«, rief Samuel aus, als der Steinhügel sich hinter grünen Baumwipfeln erhob. McGreenery und seine Männer waren nirgends zu sehen, aber Camille konnte spüren, dass sie hier vorbeigekommen waren, als läge ihre Gier nach dem Stein noch immer in der Luft und bewegte die Zweige.
Sie schlich durch die Bäume, auf den Fuß des Hügels zu. Massive Steinbrocken, rund, eckig und unförmig, bildeten eine unebene Treppe. Sobald sie nahe genug war, beschirmte Camille die Augen gegen die durch den Dunst scheinende Sonne und reckte das Kinn vor. Dreiviertel des Weges den Hügel hinauf befand sich eine kleine Öffnung, ähnlich dem Eingang zur Höhle der Bestien.
Sie kamen gerade rechtzeitig an, um zu beobachten, wie der letzte von McGreenerys Seemännern im Innern verschwand. Camille stopfte die Karte in ihre Rocktasche und griff nach dem ersten Felsbrocken. Ihre Arme zitterten, als sie die Felsen erklomm, und immer wieder trat sie sich mit ihren bestrumpften Füßen auf den Saum ihres Rocks und stolperte. Als sie hinunterschaute, sah sie Ira direkt hinter sich und Samuel nicht weit von ihm entfernt. Angesichts der Entfernung zum Boden drehte sich ihr der Magen um und ihr wurde schwindelig.
»Schauen Sie immer nach oben«, riet Ira ihr. Sie lehnte die Stirn an einen Felsen und holte einige Male tief Luft, bevor sie weiterkletterte. Endlich umfasste Camille mit den Händen den Boden des Eingangs. Es war überhaupt keine Höhle. Im Innern neigte sich der Boden sofort wieder nach unten. Steinbrocken bedeckten den Weg wie Wachstropfen eine spitz zulaufende Kerze. Das ganze Innere des Hügels sah aus wie ein Theater, in dem Sitzreihen eine Bühne überragten. Sie kroch hinein und hockte sich hinter einen Felsbrocken. Ira und Samuel taten es ihr nach.
McGreenery war bereits am Ende der Stufen des runden Raums angekommen, wo die Bühne in diesem Fall ein abgeschliffener ovaler Stein war. In der Mitte, umfangen von einem Mosaik kleinerer Felsbrocken, sah Camille einen leuchtenden blaugrünen Stein mit schimmernden Goldeinschlüssen.
Der Umandu. Camille beobachtete voller Entsetzen, wie McGreenery den Speer niederlegte, mit dem er Oscar erstochen hatte, und auf die Steinplatte kletterte, einen Sack in Händen. Seine Matrosen sammelten sich voller Ehrfurcht um ihn herum, und einer ließ das Gewehr fallen, das er aus der Höhle mitgenommen hatte. Es fiel klappernd zu Boden und das Echo hallte durch die hohle Kuppel. Camille huschte hinter dem Felsbrocken hervor, bevor das Echo verebbte, und schüttelte Iras Hand ab, als er versuchte, sie zurückzuhalten. So leise sie konnte, bewegte Camille sich die Felstreppe hinab. Es würde nichts bringen, wenn sie McGreenery zurief, dass er aufhören sollte. Sie musste den Umandu als Erste erreichen. Aber wie?
Auf halbem Weg die Treppe hinunter sah sie, dass McGreenery den blaugrünen Stein noch
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