Der Duft des Meeres
den Flur entlang, vorbei an ihrem winzigen Zimmer und zur Kombüse, wo weitere Matrosen auf der Kajütstreppe zusammengekommen waren. Sie alle mühten sich die schmale Leiter hinauf und überrannten einander. Oscar legte die Finger um Camilles Arm und zog an ihr, während sie hinaufkletterte. Sie rannten zur Reling, aber die Laufplanke war bereits gelöst worden. Die Juggernaut trieb schon gut hundert Meter vom Kai entfernt im Wasser.
»Springt!«, rief ein Matrose hinter ihnen, bevor er selbst über die Reling sprang. Er landete mit einem Klatschen im Wasser, gefolgt von einem weiteren Seemann und noch einem. Camille trat an die Reling, Oscars gefesselte Hände immer noch in ihren. Eine den Boden erschütternde Ex-plosion sprengte den Frachtraum und das erste Deck und zersplitterte das Oberdeck. Ein Feuerball stieg in die Luft und die Wucht der Explosion stieß Camille über die Reling.
Sie landete im Wasser, das ihr in die Nase schoss und ihren Mund füllte. Der Schock der Explosion legte sich schnell, als sie begriff, dass ihre Handgelenke noch immer gefesselt waren. Wie sehr sie sich auch bemühte, ihre Hände zu befreien, das Seil löste sich nicht. Mit nach Luft gierenden Lungen trat Camille mit den Beinen und durchbrach die Oberfläche. Sie rang um Atem und schlug mit ihren gefesselten Armen aufs Wasser. Der Fluss schimmerte unter dem brennenden Feuerball, der einst die Juggernaut gewesen war. Auf und ab hüpfende Köpfe von Matrosen näherten sich dem Ufer, wo sich eine Menschenmenge gebildet hatte. Der eine Seemann, nach dem Camille suchte, war jedoch nirgends zu sehen.
»Oscar!«, schrie Camille, bevor sie unter die Oberfläche geriet und dabei den Mund voll Wasser bekam. Heftig tretend kam sie wieder hoch, aber ihre Muskeln schmerzten. Ihre Nase brannte vom Brackwasser, und sie wusste, dass sie an Land schwimmen musste, wenn sie nicht ertrinken wollte. Das Schwimmen auf dem Rücken schien am besten zu funktionieren und binnen Minuten stießen ihre Schultern gegen einen Pfahl am Kai. Sie schlang die Beine darum, fand den Knoten an dem Seil und riss ihn mit den Zähnen auf. Ihre Lippen und ihre Handgelenke bluteten, als das Seil ins Wasser fiel. Sie klammerte sich an den Pfahl und schaute zu dem Schiff hinüber, auf dem die Flammen langsam kleiner wurden.
»Oscar.« Salzwasser brannte in ihren Augen. Am Strand halfen Leute Matrosen ans Ufer, aber Oscar sah sie dort nicht.
Die Gebrüder Hesky waren wahrscheinlich unter den Zuschauern und warteten ab, ob sie oder Oscar oder auch nur Lucius aus dem Wasser krochen. Oscar hätte daran gedacht und die Menge gemieden. Falls er es vom Schiff heruntergeschafft hatte.
»Nein«, sagte sie und weigerte sich zu glauben, dass er es nicht geschafft hatte. Sie schwamm weiter unter die Anlegestelle, wo die Pfähle schleimig waren und das Holz nach Fäulnis stank, aber der Schatten verbarg sie hier gut. Wie lange konnte sie in dem kalten Wasser bleiben, blutend, mit Schmerzen und voller Angst? Bis die Menge sich zerstreute, bis sie mit Bestimmtheit wusste, dass die Heskys sie nicht sehen würden, wenn sie zu Montys Hütte lief.
»He!«
Camille zuckte zusammen, und dann sah sie eine Gestalt, die sich an einen der Pfähle klammerte. Lucius.
»Sie Feigling! Sie Schlange!« Camille schwamm auf ihn zu und stach ihm mit dem Finger in die Brust. Lucius wehrte ihren nächsten Stoß ab und schob sie zurück unter die Anlegestelle.
»Seien Sie still«, zischte er. »Wollen Sie, dass die Heskys Sie hören?«
»Sie haben sie zu uns geführt«, sagte sie leiser. »Wie konnten Sie?«
Lucius wischte sich Wasser aus dem Gesicht und schwamm spritzend zum flachen Ende des Anlegers. Camille folgte ihm und ihre Füße trafen auf Sand. Ihr Kopf pulsierte und ihr Magen schlingerte. Sie dachte, dass sie sich vielleicht übergeben würde, schluckte jedoch tapfer.
»Hören Sie zu, ich schwöre, ich wusste nicht, dass sie vorhatten, Sie zu töten. Oder mich«, fügte er hinzu. »McGreenery hat nichts Derartiges gesagt, als er mich bat, mit ihnen zu gehen. Ich war der Einzige, der wusste, wie Sie und Kildare aussehen, und, nun ja …«
Camille schlug ihm auf die Wange. »Wenn Oscar tot ist, werde ich Sie persönlich an die Gebrüder Hesky verfüttern.«
Lucius schloss den Mund und rieb sich die Wange. Camille watete aus dem Wasser und hockte sich hinter den niedrigsten Pfahl, der die Anlegestelle abstützte.
»Denken Sie, sie sind da drüben?«, fragte sie und suchte in der Menge nach
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