Der Duft des Meeres
eines Moments verschwunden, zusammen mit dem Geräusch von Oscars Stimme, der heiser ihren Namen rief.
Sie presste die Augen zusammen, knirschte mit den Zähnen und bereitete sich darauf vor, auf dem Boden aufzuschlagen. Sie fiel zu tief und nahm zu viel Geschwindigkeit auf – sie würde sich die Beine brechen, vielleicht Schlimmeres. Camille kratzte mit den Fingernägeln über die Seiten des Schachtes und versuchte, irgendetwas zu fassen zu bekommen, das ihren Sturz bremste. Zu viel Luft schoss ihr in die Nase, sie konnte nicht atmen, konnte nicht schreien. Ihre Kehrseite stieß an die Wand des Schachts, ihr Rock wogte um ihr Gesicht herum, und dann rutschte sie über die glatte, kalte Oberfläche weiter nach unten. Der Abhang schien endlos zu sein und sie rutschte mit immer größer werdender Geschwindigkeit weiter und wurde um scharfe Ecken katapultiert. Es wollte nicht aufhören. Es wollte nicht enden.
Plötzlich umgab sie eisiges Wasser, das ihren Mund und ihre Kehle füllte, während ihr Rock an ihrem Gesicht klebte. Der Schwung, den sie aufgenommen hatte, drückte sie hinab, und ihre Arme und Beine waren zu kraftlos, um sie zurück an die Oberfläche zu bringen, wo immer die sein mochte. Die Dunkelheit, das Wasser, der Sturz, das alles hatte sie so durcheinandergebracht, dass sie sich einfach nicht wehren konnte. Panik ergriff sie, als ihre Lungen von Sekunde zu Sekunde mehr schmerzten. Sie würde ertrinken, genau wie ihr Vater.
Aber dann begann ihr Körper zu steigen. Sie widerstand dem Drang, nach Luft zu schnappen und tödliches Wasser einzuatmen. Camille hielt durch, wartete, wusste, dass sie es nicht schaffen konnte, und brach endlich doch durch die Oberfläche.
Ihr keuchender Atem hallte in ihren Ohren wider, ihr Husten brannte in ihrer Kehle und ihrer Brust. Mehr Luft, sie konnte gar nicht genug davon bekommen. Camille, die sich Wasser aus den Augen rieb und sich benommen und schwach fühlte, versuchte, durch die Dunkelheit zu spähen. Wasser füllte ihre Stiefel und beschwerte sie. Sie zog sie aus und ließ sie sinken. Ihre Füße mussten so beweglich wie möglich sein und ihre Hände frei. Ihre Beine und Arme teilten das Wasser, um über der Oberfläche zu bleiben. Das Wasser auf ihrer Zunge schmeckte nach Mineralien, war aber Süßwasser, kein Salzwasser.
»Hallo?«, rief sie. Ihre Stimme hallte über ihrem Kopf wider. Irgendwo tropfte Wasser. Es klang wie ein Rinnsal von Wasser auf Stein. Einen Arm immer noch im Wasser, um sich besser an der Oberfläche halten zu können, streckte sie den anderen über den Kopf. Ihre Finger trafen auf rauen, von Moosen schleimigen Fels. Sie senkte den Arm und hielt ihn horizontal, während sie zu einer Seite schwamm, dann zur nächsten und nach dem Wasserrand tastete.
Mit schmerzenden Armen und angestrengter, ungleichmäßiger Atmung berührte Camille endlich eine kühle, nasse Felswand. Die Schwärze war so vollkommen, dass ihre Augen aus den Höhlen traten, als sie versuchte, etwas zu sehen. Irgendetwas. Was war geschehen? Sie hatte kein Loch gesehen. Es war, als hätte sich das ausgetrocknete Seebett geöffnet und sie verschluckt. Diesmal hatte es auch kein Singen oder Trommeln gegeben oder einen grinsenden Totenkopf, der nach ihr schnappte, um sie zu warnen.
Sie lauschte auf Oscars Schreie, denn sie wusste, dass er nach ihr rufen würde. Würde er in das Loch springen, um ihr zu folgen? Nein, betete sie, während sie sich an den gezackten Fels klammerte und sich dagegenlehnte, um sich auszuruhen. Da waren keine Schreie, keine besorgten Rufe. Sie war zu tief gefallen und ihre eigenen Rufe würden ebenfalls nutzlos sein. Was war das für ein Ort?
»Der Weg zu dem Stein ist angeblich übersät von Fallen, endlosen Löchern in der Erde, in denen man für immer versinkt.« McGreenerys Warnung an jenem Abend im Hafen von Melbourne. Sie lehnte ihre Stirn an den Felsen, während sie versuchte, sich die Karte ins Gedächtnis zu rufen. Entlang der silbernen Linie waren dunkle, aufgedruckte Zylinder gewesen. Löcher in der Erde! Sie hätte sich erwürgen können, weil sie so töricht gewesen war.
Nach einigen Sekunden wurde ihr Atem gleichmäßiger. Ihre Gedanken hatten ihren normalen Rhythmus wiedergefunden und die Vernunft gewann die Oberhand. Es musste einen Ausweg geben, aber ohne sehen zu können, wo sie war oder was um sie herum war, würde sie sich auf ihre anderen Sinne verlassen müssen. Geräusche? Sie lauschte. Tropf, tropf, tropf. Wasser natürlich.
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