Der Duft des Regenwalds
bleiben natürlich bei Ihnen, bis alles geklärt ist«, versicherte Günter. Alice hätte die Familie am liebsten umarmt. Sie überlegte, ob sie ihr Rückfahrticket umtauschen konnte, um gleich den nächsten Dampfer nach Deutschland zu nehmen. Aber wo in Gottes Namen steckte Patrick?
Sie entdeckte einen großen, mehrstöckigen Kiosk an der Uferpromenade, an dem sich bereits etliche Menschen auf Stühlen niedergelassen hatten, um nach langer Trennung ausgiebig zu plaudern, und empfand die Sehnsucht nach ihrem Bruder als einen Stich in ihrem Herzen. Plötzlich löste sich eine Gestalt aus der Menge, aber sie war zu dunkelhäutig und zu elegant gekleidet, um Patrick sein zu können.
»Sehen Sie, da winkt Ihnen jemand zu. Ein sehr gut aussehender Mann. Dem gefallen Sie sicher«, plapperte Alberta mit leuchtenden Augen und zerrte an Alice’ Arm. Tatsächlich kam der junge Herr in tadellos geschnittenem Anzug auf sie zu. Alice fragte sich, wie er bei dieser die Hitze so frisch aussehen konnte. Dunkle, große Augen blinzelten im Sonnenlicht, pechschwarzes, glatt frisiertes Haar glänzte unter einem Strohhut. Sie hatte sich mexikanische Männer klein und grimmig vorgestellt. Dieser hier hätte Harry mühelos in den Schatten gestellt, so perfekt saß der Anzug an seinem hochgewachsenen, schlanken Körper, während er sich geschmeidig wie eine Katze bewegte.
»La Señorita Alice Wegener?«, fragte er, als er schließlich vor ihr stand. »Une vraie beauté, comme on m’a dit.«
Alice spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann. Hoffentlich ließ sich ihr Erröten durch die Hitze erklären.
»Je suis Alice Wegener«, erwiderte sie und dankte im Geiste ihrer einst verhassten Gouvernante für den langjährigen Unterricht in französischer Sprache. »Mais où es mon frère?«
Der junge Mexikaner verbeugte sich und küsste zu ihrem Entsetzen ihre Hand, die sicher schweißnass war. Wegen der Hitze hatte sie auf Handschuhe verzichtet. Seine Augen blitzten wie Karfunkelsteine, als er Alice wieder anblickte. Sie fühlte ihr Herz flattern und schämte sich, von der Aufmerksamkeit eines tatsächlich sehr gut aussehenden Mannes derart verunsichert zu werden. Es musste an der Fremde liegen und an ihrem Gefühl der Verlorenheit.
»Ihr Bruder konnte leider nicht kommen. Er ist mit seinen Ausgrabungen beschäftigt und schickte daher mich, um Sie abzuholen«, erklärte der schöne Herr in seinem fehlerfreien Französisch. »Mein Name ist Juan Ramirez. Ich bin ein guter Freund Ihres Bruders und der Schwager von Hans Bohremann.«
Alice verstand, dass der deutsche Name ihr ein Begriff sein sollte. Sie meinte, ihn auch schon einmal gehört zu haben, doch konnte sie ihn nicht zuordnen.
»Hans Bohremann gehört eine große Kaffeeplantage in Chiapas«, erklärte er. »Er hat Ihrem Bruder und auch Dr. Scarsdale seine Gastfreundschaft angeboten, wenn sie nicht gerade in Palenque bei den Maya-Ruinen sind. Ich habe die Ehre, Sie hier ein paar Tage in Veracruz herumzuführen, bevor die zwei Gelehrten eintreffen. Nun erlauben Sie mir bitte, Sie in Ihr Hotel zu begleiten.«
Bevor Alice etwas erwidern konnte, waren ein paar kleinwüchsige Indios erschienen, um ihr Koffer und Staffelei aus der Hand zu reißen. Juan Ramirez lud sie mit einer schwungvollen Handbewegung ein, ihm zu folgen. Ratlos sah sie sich nach den Grünewalds um.
»Sollen wir erst einmal mitkommen?«, fragte Günter, die Stirn gerunzelt. Alice schüttelte den Kopf. Der Mexikaner wirkte durchaus seriös, und zudem gab es bei ihr kaum etwas zu stehlen.
»Dann viel Vergnügen in Mexiko, Fräulein Wegener«, erwiderte Günter und drückte ihr ein Stück Papier in die Hand. »Unsere Adresse in Mexiko-Stadt. Sie können mit dem Zug hinfahren, wenn Sie Hilfe brauchen, es kostet nicht viel. Wir danken Ihnen von Herzen für das Bild.«
Es folgten Umarmungen von Emilia und Alberta. Die kleine Frau Grünwald blinzelte ihr zum Abschied verschmitzt zu.
»Sehr schöner Mann, aber Vorsicht, er weiß, wie schön er ist.«
Bevor Alice etwas erwidern konnte, war Günter schon im Begriff, das Gepäck der Grünwalds auf einen der wartenden Karren zu laden, während Emilia mit dem Fahrer den Preis bis zum Bahnhof aushandelte. Sie winkte ihnen kurz zu, dann spürte sie den erwartungsvollen Blick von Juan Ramirez auf sich ruhen.
»Es ist nicht weit bis zum Hotel. Möchten Sie ein Stück zu Fuß laufen?«
Außerstande, in dieser überwältigend fremden Welt eine eigene Entscheidung zu treffen,
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