Der Duft des Regenwalds
jene Schwächen gewesen, die der Vater durch Gebrüll und Schläge Patrick hatte austreiben wollen, allerdings ohne jeden Erfolg.
»Doch als Ix Chel in sein Leben trat, da änderte er sich«, fuhr Andrés fort. »Er wollte sie tatsächlich beschützen und schien zu begreifen, dass er sich bei den Männern hier Respekt verschaffen musste, um dies tun zu können. Plötzlich hörte er auf Ratschläge, die ich ihm im Umgang mit den Arbeitern gab, und ließ ihnen nicht mehr alles durchgehen. Die Aufseher ermahnte er nur noch, wenn sie unnötig brutal vorgingen, und einige von ihnen begannen seine Regeln zu begreifen. Ich hatte den Eindruck, dass Dr. Scarsdale Patricks neue Autorität missfiel, denn vorher hatte er allein bestimmt, was geschah. Zudem verhielt Patrick sich auf sinnvolle Weise gütig. Er gab Arbeitern, die am Sumpffieber litten, Chinin. Dadurch gewann er ihre Loyalität, doch Dr. Scarsdale regte sich darüber auf.«
»Warum?«, fragte Alice erstaunt. Sie wusste, dass der Archäologe von seiner Arbeit besessen war, aber einen wirklich kaltherzigen Eindruck hatte er nicht auf sie gemacht.
»Sie hatten nicht genug Chinin dabei. Dr. Scarsdale fürchtete, es könnte ihnen fehlen, wenn sie selbst krank wurden. Er ging davon aus, dass wir Indianer uns bei diesen Krankheiten schon irgendwie helfen können.«
Alice nickte, denn sie konnte sich eine solche Reaktion bei dem Archäologen vorstellen. Arbeiter, die an Malaria litten, waren ersetzbar. Er selbst war es an der Forschungsstätte nicht.
»Patrick setzte sich durch?«
Es war mehr eine Feststellung, denn hätte Patrick dies nicht getan, wäre es nicht zu einem Streit gekommen.
»Er bot Dr. Scarsdale die Stirn. Ich glaube, Ix Chels Liebe gab ihm das Selbstvertrauen, das er bisher entbehrt hatte.«
Alice schluckte. Sie hatte stets versucht, Patrick vor den Wutausbrüchen ihres Vaters zu schützen, wenn auch nicht immer mit Erfolg. Dennoch hatte sie stets geglaubt, seine engste Vertraute zu sein, war aber kurz vor seinem Tod von einer unbekannten Frau aus einem fremden Volk verdrängt worden. Wer war sie gewesen, diese Ix Chel? Konnte eine intrigante Betrügerin eine solche Wirkung auf einen Mann haben, oder hatte Andrés recht, und die Indianerin hatte den Abenteurer ebenso geliebt wie er sie? Alice erinnerte sich an das Bild mit der Kette. Leise formten ihre Lippen den fremden Namen, der allmählich wie ein Gebetsspruch für sie zu werden begann. Dann fiel ihr plötzlich etwas auf, dem sie bisher keinerlei Beachtung geschenkt hatte.
»Ix Chel, das ist doch kein spanischer Name?«
»Nein«, stimmte Andrés zu, »er klingt reichlich merkwürdig, aber wir hatten hier immer andere Sorgen, als darüber nachzudenken.«
Alice runzelte die Stirn.
»Könnte es vielleicht ein alter Maya-Name sein?«
»Es könnte irgendein Name sein. Ich habe keine Ahnung, warum ihre Eltern sie so nannten. Das könnten wahrscheinlich nur sie uns erklären.«
»Aber die Kette auf dem Bild«, beharrte Alice. »Der womöglich uralte Name und die uralte Kette. Vielleicht hängt beides irgendwie zusammen.«
Er drehte sich zu ihr um und lächelte sie nachsichtig, fast zärtlich an.
»Sie haben das grenzenlose Vorstellungsvermögen einer Künstlerin. Ich halte mich lieber an Tatsachen. Wir wissen nichts von der Kette. Und wir wissen auch nicht, was der Name bedeutet.«
Alice nahm seine Skepsis hin, doch gleichzeitig begann ein neuer Gedanke in ihrem Kopf heranzuwachsen.
»Nachdem Martin uns damals entdeckt hatte, da sagten Sie, Sie würden sich im Dschungel verstecken. Bei diesen Indianern, die kein Weißer kennt, nur einige der Indios hier.«
Er lachte kurz auf.
»Eine aus Verzweiflung geborene Idee, nichts weiter. Ich wusste nicht einmal, wo genau ich nach diesen Leuten suchen sollte. Angeblich ziehen sie herum, haben keinen festen Wohnsitz.«
»Aber wenn Ix Chel Todesangst hatte, dann war sie vielleicht ebenso verzweifelt«, fuhr Alice mit ihren Überlegungen fort. »Sie ging nicht zu ihrer Familie zurück, denn sie wusste, dass man dort nach ihr suchen würde. Aber da sie aus einem der Dörfer hier stammte, konnte sie von diesen wilden Indianern im Urwald wissen. Wäre ich an ihrer Stelle, würde ich mich bei Leuten verstecken, deren Existenz den Ladinos völlig unbekannt ist, denn dort suchen sie mich mit Sicherheit nicht.«
Andrés’ Blick war sehr aufmerksam auf sie gerichtet. Sie meinte zu sehen, wie die Gedanken hinter seiner leicht gerunzelten Stirn wanderten,
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