Der Duft des Regenwalds
zäher sein«, erwiderte sie, ohne wirklich an ihre Worte zu glauben.
»Und was veranlasst Sie zu der Annahme, dass es hierzulande keine sensiblen Seelen gibt? Sie müssen sich zwar eine harte Schale zulegen, aber die kann sehr schnell bröckeln.«
Alice streichelte Mariana, als sie plötzlich seine Hände auf ihren Schultern spürte. Sie schloss die Augen und lehnte sich an Andrés. Ihr Herz raste, aber ihr war gleichzeitig so wohl, so friedlich zumute, als habe sie einen Ort gefunden, wo sie in Ruhe ausharren konnte. Seine Finger glitten über ihr Gesicht, so sanft und beruhigend, wie sie gerade Mariana getröstet hatte. Gerade wollte sie den Hund sanft auf den Boden setzen, als sie eine dunkle Gestalt den Gang entlanglaufen und hinter einer Mauer verschwinden sah.
»Da war jemand!«, rief sie und hörte Andrés losrennen. Nach einer kurzen Pause folgte sie ihm, begleitet von einer aufgeregt bellenden Mariana. Sie erreichten einen der kleineren Innenhöfe des Palastes, der aber menschenleer war. Zwar meinte Alice, Schatten über die Wände huschen zu sehen, doch bei genauerem Hinsehen stellten sie sich als Zweige heraus, die vom Wind bewegt wurden. Völlig still standen Andrés und sie beieinander, damit ihnen nicht der geringste Laut entging, doch bis auf das Flüstern des nächtlichen Regenwalds blieb es still. Marianas keuchende Atemzüge schienen so laut wie das Fauchen eines Jaguars.
»Vielleicht haben wir einen Geist gesehen, der hier nachts herumschleicht«, unterbrach Alice das Schweigen. Sie stieß ein Lachen aus, das in ihren eigenen Ohren hysterisch klang.
»Aber Miss Wegener, aufgeklärte, moderne Menschen wie Sie glauben doch nicht an Geister. Der Aufenthalt in unserem Land scheint Ihnen nicht gutzutun.«
Sie wandte sich ihm zu und sah ein spöttisches Blitzen in seinen Augen.
»Ich habe hier inzwischen so viel Neues und Fremdes zu sehen bekommen, dass mich ein Geist auch nicht mehr verwundern würde«, entgegnete sie.
»Aber das eben«, sagte Andrés, »war mit Sicherheit keiner.«
Er trat auf den Hof hinaus und hob einen kleinen Gegenstand auf, der im Mondlicht blitzte. Alice trat neugierig näher und sah die scharfe Klinge eines Messers mit einem groben, abgewetzten Holzgriff.
»Das sieht aus wie die Waffe, mit der Modesta getötet wurde«, murmelte sie entsetzt. Andrés ergriff ihren Arm und schob sie an die Palastmauer.
»Wir sollten schnell von hier verschwinden«, flüsterte er. »Ich glaube, Martin hat sich hier irgendwo versteckt und beobachtet uns wahrscheinlich schon die ganze Zeit.«
Alice begann zu frösteln. Sie hob Mariana auf ihren Arm, ließ sich von Andrés widerstandslos zu den Palaststufen ziehen und stieg diese hinab. Je eher sie wieder inmitten der Hütten des Lager standen, desto leichter würde ihr das Atmen fallen. Als sie endlich am Fuß der Ruine angelangt war, wandte sie sich noch mal um. Der Palast lag regungslos in der Finsternis, ein längst verlassenes Stück Erinnerung an vergangene Größe, das der Dschungel viele Jahrhunderte lang verschluckt hatte, bis ein paar abenteuerlustige Fremdlinge gekommen waren, um es von Baumwurzeln und Lianen zu befreien. Verbarg sich tatsächlich ein Mörder darin?
»Haben Sie Dr. Scarsdale von Martins Überfall erzählt?«, fragte Andrés. Sie schüttelte den Kopf.
»Ehrlich gesagt, war es mir ein wenig peinlich. Ich bin hier schon mehrfach überfallen worden, und der Archäologe hält mich für etwas ungeschickt. Nachdem er über Sie Bescheid wusste, war Martin doch keine Gefahr mehr für uns.«
»Ich dachte auch, dass er sich aus dem Staub macht, wenn er merkt, dass wir beide hier aufgenommen wurden«, sagte Andrés. »Aber es war vielleicht unvorsichtig, ihn so einfach zu vergessen. Wir sollten in Zukunft auf der Hut sein und nicht mehr nachts allein irgendwo herumschleichen.«
Alice verspürte einen Stich in ihrem Inneren, denn sie sehnte sich danach, wieder allein mit Andrés sein zu können. Sie hob ihre Hand und berührte seine Wange, die im Vergleich zu seinen Händen erstaunlich glatt war. Wieder wurde sie in eine Umarmung gezogen, nur war sie diesmal inniger, fast gierig.
»Patrick sagte bereits, dass du eine wunderschöne Frau bist«, flüsterte Andrés an ihrem Ohr. »Aber als ich dich damals in diesem stinkenden Loch sah, da dachte ich, jetzt hat das Fieber mich erwischt und ich phantasiere.«
Alice staunte, dass sie auf einmal nichts als Glück empfand, ihn durch ihren Anblick erfreut zu haben. Sie legte
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