Der Duft des Regenwalds
beide Hände an seinen Hinterkopf und zog ihn zu sich. Niemals hatte sie einen derart innigen Wunsch verspürt, einen Mann zu küssen, um den seltenen Augenblick, da sie unbeobachtet waren, nutzen zu können. Er drückte sie so fest an seinen Körper, dass sie jeden Muskel spüren konnte. Dies war der Moment, um gemeinsam auf eine Matratze zu fallen, und Alice verspürte ein Verlangen, dessen Heftigkeit ihr unbekannt war. Sie wusste nicht, wie sie die Nacht überstehen sollte, ohne sich an ihn pressen zu können. Als er sie sanft zurückschob, wollte sie vor Empörung schreien.
»Es geht nicht, Alice. Nicht hier im Lager.«
Sie war vernünftig genug, nur ein leises Murren auszustoßen.
»Julio kann sicher eine Nacht woanders schlafen. Ich werde ihm eine Belohnung versprechen.«
»Und morgen sehen mich alle aus deiner Hütte kommen. Es wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten, und du giltst als Freiwild. Vergiss nicht, wie Martin dich behandelt hat, weil du dich heimlich mit einem Indio getroffen hast.«
Alice schüttelte sich.
»Aber der war doch krank im Kopf.«
»Das sind die meisten der Aufseher, wenigstens nach ein paar Jahren in einer Montería. Die einfachen Indios sind in einer gewissen moralischen Ordnung aufgewachsen, aber die Aufseher kennen vor allem Gewalt. Alle starren dich an, sobald du irgendwo auftauchst, denn eine Frau wie dich konnten sie bisher nur aus der Ferne bestaunen. Allein deine Stellung als Angehörige der Oberschicht schützt dich. Sie haben gelernt, dass sie Ärger bekommen, wenn sie einer wie dir zu nahe kommen. Du darfst dir keinen Fehler erlauben.«
»Dr. Scarsdale wird mich schützen«, widersprach sie. »Ihm ist es völlig egal, ob ich wie eine Nonne lebe oder fünfzig Liebhaber habe. Solche Dinge interessieren ihn nicht.«
Andrés runzelte die Stirn.
»Glaubst du wirklich, dieser schmächtige Gelehrte kann all die Kerle hier in Schach halten, wenn sie ihm an die Gurgel gehen? Auch er sitzt auf einem Pulverfass, und das weiß er. Wir sind hier im Dschungel. Die staatlichen Autoritäten sind sehr weit entfernt, und er wäre nicht der erste Forschungsreisende, der nicht zurückkehrt.«
Alice bohrte wütend einen Fuß in den Erdboden. Der Regenwald war so riesengroß und mächtig, eine archaische Welt, in der engstirnige moralische Vorschriften keine Gültigkeit haben konnten. Warum hatte sie hier noch weniger Freiheit als in ihrer kleinen Wohnung in Charlottenburg?
»Aber ich möchte …«
Sie verstummte, denn ihr war klar, dass sie sich wie ein trotziges Kind anhörte. Dennoch konnte sie nicht umhin, ihre Hände nach ihm auszustrecken, um eine Erinnerung an das harte Kupfer, aus dem sein Körper gemacht schien, mit in ihre Hütte nehmen zu können.
»Ich will es doch genauso«, erwiderte Andrés und küsste sie, als habe er endlich alle Scheu verloren. »Und ich hätte niemals gedacht … aber wir müssen vernünftig sein.«
Er entzog sich wieder, und Alice ließ ihn widerstandslos gehen. Sie staunte, dass sein Verhalten sie nicht wütend machte, denn jedem anderen Mann hätte sie für eine solche Zurückweisung böse Worte ins Gesicht geschleudert. Doch jene Ruhe, die Andrés ausstrahlte, schien auch jenen Teil von ihr zu erfassen, der aufbrauste wie vom Sturm gepeitschte Wellen.
»Vergiss nicht, dass wir hier sind, um Ix Chel zu suchen«, mahnte er, drückte sie aber noch für einen Moment an sich. »Du wolltest mit Julio reden.«
Sie nickte kurz, schlich dann mit Mariana in ihre Hütte, wo sie hastig Rock und Bluse abstreifte, um sich in ihrem Unterkleid auf die Petate zu legen. Sie hängte das Moskitonetz über sich auf. Sie war jedoch zu unruhig, um einschlafen zu können. Die Sehnsucht nach einer Erfahrung, die zum Greifen nahe gewesen war, aber auf die sie dennoch hatte verzichten müssen, quälte sie wie ein Krampf in ihrem Unterleib, doch gleichzeitig empfand sie etwas, das bisher kein Liebhaber jemals in ihr hatte auslösen können. Sie wusste nicht, wie sie dieses entspannte Wohlbefinden nennen sollte. Glück schien ihr ein zu hochtrabendes Wort.
Julio verließ das Lager zwei Tage später unter dem Vorwand, Alice’ abgelegte Kleidung ins nächste Dorf zu bringen und bei der Gelegenheit auch ein paar neue Vorräte zu holen. Domingo, jener Indio, den Alice vor den Knüppeln der Aufseher gerettet hatte, begleitete ihn. Modesta musste inzwischen längst begraben sein, doch sie war nie wieder erwähnt worden.
Indessen wurde die systematische Erforschung der
Weitere Kostenlose Bücher