Der Duft des Regenwalds
Gefahr«, erwiderte er. »Flüchtlinge aus den Monterías, die auf dem Fluss transportierten Baumstämme und herumbrüllende Capataces können ihnen nicht entgangen sein. Sie sind vorsichtig, denke ich. Solange es den Dschungel noch gibt, werden sie sich in ihm verkriechen.«
Diese Worte beruhigten Alice ein wenig. Der Regenwald schien zu riesig und zu übermächtig, um so einfach von Menschenhand ausgelöscht zu werden.
»Wir werden warten, was Ix Chel uns zu erzählen hat«, sagte Andrés schließlich und legte einen Arm um ihre Schultern. »Dann sehen wir weiter.«
Allerdings wusste keiner von ihnen, wann Ix Chel kommen würde. Die Dorfgemeinschaft ging ihren täglichen Arbeiten nach und bildete dabei einen engen Kreis um ihre Gäste. Andrés half mit, das Dach einer benachbarten Hütte auszubessern, nachdem es einem heftigen Regenfall in der Nacht nicht standgehalten hatte. Alice blieb noch einen Tag auf ihrer Matte liegen, um sich auszukurieren, aber schließlich wurde der Bewegungsdrang übermächtig, und sie beschloss, sich nach draußen zu wagen. Ein paar Kinder tollten in dem Dorf herum, jagten sich gegenseitig, schubsten einander und lachten ausgelassen. In den Indio-Dörfern, die Alice bisher besucht hatte, wären sie vermutlich längst zu irgendeiner Arbeit gerufen worden, doch hier verlief die Kindheit unbeschwert. Einige Frauen saßen an ihren Webstühlen, kochten oder flochten jene Ketten aus Pflanzenfasern, die vermutlich böse Geister abwehren sollten. Die Männer mussten zur Jagd aufgebrochen sein, und Alice war sich sicher, dass auch etliche Frauen, die sie bereits gesehen hatte, fehlten. Chan K’in kauerte im Schatten eines Baumes dicht neben seiner Hütte und schnitzte mit einem Steinmesser an einer Kokosnussschale herum. Alice staunte, denn sie hatte das Anfertigen von Geschirr für Frauenarbeit gehalten. Andrés, der nun, da das Dach repariert war, dabei half, Zweige zu Pfeilen zuzuspitzen, saß ein Stück neben dem Kaziken und schien ganz in diese Tätigkeit vertieft. In dem weißen Gewand wirkte er bereits wie ein Teil des Dorfes. Alice wurde bewusst, dass sie selbst niemals ganz dazugehören würde, und erstaunlicherweise versetzte ihr diese Erkenntnis einen Stich.
»Andrés!«, rief sie und war erfreut, als er sein Werkzeug gleich zur Seite legte.
»Was macht der Kazike da? Essschalen verzieren?«
»Es sind rituelle Gefäße, deshalb will er sie selbst anfertigen, denn er führt hier alle wichtigen Zeremonien durch.«
Er lächelte sie kurz an und beugte sich dann wieder über seine Arbeit. Alice kam sich nutzlos vor. Sie wusste nicht, wie man webte, und wagte nicht, die Frauen um eine Unterweisung zu bitten, zumal sie nicht einmal mit ihnen reden konnte. Sie beschloss, in den Dschungel zu gehen, denn sie wollte ihre Blase leeren, was sie bisher dicht hinter ihrer Hütte getan hatte, doch nun sehnte sie sich nach etwas mehr Privatsphäre. Allzu gefährlich konnte es nicht sein, denn sie würde sich nicht weit vom Dorf entfernen, und der Regenwald war ihr nicht mehr völlig fremd. Entschlossen lief sie los und stellte fest, dass zwei junge Mädchen sich an ihre Fersen hefteten. Sie musste aufmerksamer geworden sein, denn früher hatte sie die Schritte von Indios für geräuschlos gehalten. Alice drehte sich um und versuchte, durch Gesten verständlich zu machen, dass sie allein sein wollte. Die Mädchen sahen einander ratlos an, folgten ihr aber trotzdem. Alice gab auf und hockte sich hinter einen dichten Busch, um zu tun, was sie tun musste. Die Mädchen hielten immerhin taktvollen Abstand, klebten aber wieder wie Schatten an ihr, als sie ins Dorf zurückging. Erst als sie wieder von Hütten umgeben war, entfernten sie sich so unauffällig, wie sie die Verfolgung aufgenommen hatten.
»Ich glaube, man will uns nicht von hier fortlassen«, sagte sie zu Andrés, der konzentriert schnitzte. »Ich gehe nur kurz weg, und sofort sind zwei Dorfmädchen hinter mir her.«
»Vielleicht wollten sie einfach auf dich aufpassen. Der Dschungel ist gefährlich.«
Er winkte sie zu sich auf den Boden. Alice spürte neugierige Blicke, als sie an seiner Seite saß, beschloss aber, diese zu ignorieren.
»Ich möchte manchmal allein sein. Ich bin das so gewöhnt«, klagte sie. Andrés grinste sie spöttisch an.
»Du bist in einem Indianerdorf, mein Herz. Hier ist man nie völlig allein. Je kleiner eine Gemeinschaft ist, desto genauer beobachten Menschen einander. Geh in deine Hütte, wenn du Ruhe
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