Der Duft des Regenwalds
die Alice ein wenig beruhigte. Sie bemerkte ein stolzes Leuchten in den schwarzen Augen und wagte, die Fremde zaghaft anzulächeln. Sogleich wurde sie von einem Schwall unverständlicher Worte überschüttet. Andere Frauen drängten sich nun in die Hütte, junge, alte, hübsche und unscheinbare, und alle trugen sie das gleiche Nachtgewand. Es waren eindeutig Indias, nur fehlten die farbigen Stickereien an ihrer Kleidung und die bunten Schleifen in ihrem Haar. Einige hatten sich Papageienfedern in ihre zerzausten Mähnen gesteckt. Man hätte sie ungepflegt nennen können, hätten sie nicht wie Wesen aus einer uralten, längst versunkenen Welt gewirkt. Nur ihr lautes Lachen, die unverhohlene Neugier, mit der sie Alice anstarrten, all dies machte sie höchst lebendig und real. Alice atmete tief durch. Ihr war wieder ein wenig schwindelig geworden, aber diesmal lag es nicht an ihrem geschwächten Zustand, sondern an der Lage, in der sie sich befand. Wer waren diese ungewohnt dreisten Indianerinnen? Zwar drückte ihr bisheriges Verhalten keine bösen Absichten aus, doch es missfiel Alice, wie eine seltene Tierart bestaunt zu werden. Als eine besonders forsche Frau sie an der Schulter packte, wich Alice entsetzt zurück.
»Andrés!«, rief sie verzweifelt und wiederholte seinen Namen immer wieder, obwohl sie nicht wusste, ob er sich in der Nähe aufhielt. Die Frauen begannen, aufgeregt miteinander zu sprechen, was sie weniger fremd wirken ließ. Schließlich ging die Alte hinaus, um eine Weile später zurückzukehren. Mit ihrer rechten Hand schob sie Andrés vor sich her, und die anderen Frauen sprangen zur Seite, um ihm Platz zu machen.
»Du bist wieder gesund!«, rief er auf Englisch. Ein Ruck fuhr durch seinen Körper, als wolle er auf sie zueilen, um sie zu umarmen, aber die Anwesenheit der Frauen erzwang eine Zurückhaltung, die sie an ihm kannte. Er beschränkte sich aufs Reden.
»Sie wollten uns nicht fortlassen, weil du einen weiteren Marsch durch den Dschungel nicht geschafft hättest. Aber hier gab es keine Medikamente. Die Heilkräuter waren wirksamer, als ich zu hoffen wagte.«
Aus seinen ernsten Augen sprach Erleichterung. Alice fiel auf, dass auch er den weißen Kittel trug, doch er hatte seine zerfetzten Hosen anbehalten. Verwirrt trat sie einen Schritt auf ihn zu. Die anwesenden Frauen schienen jene Verbundenheit, die zwischen ihnen herrschte, zu spüren, denn sie wichen schweigend zur Seite.
»Wie lange sind wir schon hier?«, fragte Alice.
»Ungefähr zwei Wochen. Ich habe bald aufgehört, die Tage zu zählen. Du warst sehr schwer krank. Auch die Heilerin schien am Anfang nicht sehr zuversichtlich.«
Alice wandte sich der kleinen Frau zu. War es möglich, dass sie dieser einfachen Dschungelbewohnerin ihr Leben verdankte?
»Kannst du mit ihnen kommunizieren?«
»Ein wenig, aber es ist nicht einfach. Sie reden anders als alle Indios, die ich bisher getroffen habe.«
Alice sah ihre erste Ahnung bestätigt. Es war nicht einmal notwendig, genauer nachzufragen, denn sie wusste nun, wo sie sich befand.
»Sag ihr, dass ich ihr für ihre Hilfe danke«, bat sie Andrés. Der Wortwechsel fiel kurz aus, aber die Heilerin schien zu begreifen, denn sie klopfte Alice anerkennend auf die Schulter, als sei ihre Genesung ein gemeinsamer Erfolg.
»Sie hat etwas von einem bösen Geist erzählt, den jemand auf dich gehetzt hat, damit du nicht hierherfindest«, erklärte Andrés mit deutlicher Skepsis in der Stimme. »Sie hat ihn erfolgreich vertrieben. Solche Dinge tut mein Vater auch in seinem Dorf, er bekämpft das Malaire, Krankheiten, die durch den bösen Willen von Nachbarn ausgelöst werden. Kräuter und Zaubersprüche. Er schlachtet auch Hühner, um den Dämon zu besiegen. Manchmal hilft es tatsächlich, doch bei einer so schweren Krankheit wie deiner hätte er vermutlich versagt.«
»Dann war diese Heilerin besser«, stellte Alice fest. »Ich lebe, kein böser Fluch hat mich daran gehindert hierherzukommen. Wo ist Ix Chel?«
Sie ließ ihren Blick von seinem Gesicht zu dem der Heilerin wandern. Andrés holte Luft, doch die Alte fiel ihm ins Wort.
»Ix Chel«, wiederholte sie den Namen deutlich langsamer und weicher. Sie lächelte triumphierend, da sie begriffen hatte, worum es ging. Dann folgte wieder ein Wortschwall.
»Soweit ich verstanden habe, ist sie in der Nähe«, übersetzte Andrés. Dann schüttelte er verwirrt den Kopf.
»Diese Leute haben mehrere Dörfer im Dschungel. Ich glaube, Ix Chel lebt
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