Der Duft des Regenwalds
ihrer Reise, denn die verschollene Geliebte ihres Bruders stand vor ihr.
»Ix Chel!« Mehr vermochte sie nicht zu sagen. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie fürchtete, es könnte ihre Brust zersprengen.
Das Mädchen hockte sich auf den Boden. Als sie Andrés bemerkte, verbarg sie ihr Gesicht in den Händen, eine Geste der Scham, die Alice an den jungen Indianerinnen außerhalb des Dschungels bereits beobachtet hatte, doch in diesem archaischen Dorf waren die Frauen gewöhnlich weniger zurückhaltend. Als Andrés ein paar unverständliche Worte gesprochen hatte, hob Ix Chel ihren Kopf und unterhielt sich kurz mit ihm.
»Sie ist hier, um mit uns … also eigentlich mit dir zu reden. Sie hat eine Weile gezögert, ob sie wirklich kommen soll. Sie hat Angst, weil sie glaubt, dass sie verfolgt wird. Aber um ihres verstorbenen Mannes willen wollte sie dich treffen.«
Alice nahm die Erklärung mit einem Nicken hin. Deshalb also hatten sie hier so lange warten müssen.
»Was ist damals geschehen? Wie starb mein Bruder?«, fragte sie ungeduldig.
Sie zitterte so stark, dass sie die Arme vor der Brust verschränkte. Sie gierte nach den Neuigkeiten, hatte aber auch eine unerklärliche Angst vor dem, was sie erfahren würde. Sollte Hans Bohremann tatsächlich für Patricks Tod verantwortlich sein, wie Andrés vermutete, dann hätte sie kaum Möglichkeiten, ihn deshalb zu belangen. Die Aussage eines flüchtigen Indianermädchens würde sicher nicht genügen, so viel hatte sie von diesem Land schon begriffen. Ix Chel hatte gut daran getan, sich an diesem Ort zu verstecken.
Patricks Geliebte lächelte sie an, als wolle sie ihre trüben Gedanken verjagen. Plötzlich fühlte Alice sich wieder an ihren Traum erinnert. Das Dorf hatte darin so ausgesehen, wie es wirklich war. Und auch das Lächeln dieser Indianerin, ein wenig scheu, aber gleichzeitig freundlich und offen, sah sie nicht zum ersten Mal. Die Erkenntnis ließ sie noch stärker frösteln, als sei sie endgültig in eine magische Welt eingedrungen, wo keine ihr bekannten Naturgesetze mehr galten.
Ix Chel saß in der Hocke, blickte einen Moment ratlos zu Andrés, der sie offenbar mit ein paar Worten ermutigte, mit ihrem Bericht zu beginnen, dann ließ sie erneut ihre leise, aber erstaunlich tiefe Stimme erklingen, die so gar nicht zu ihrer mädchenhaften Erscheinung passte. Sie sprach ein paar Sätze, machte eine kurze Pause, die es Andrés ermöglichte, ihre Worte ins Englische zu übertragen.
Ix Chel Mendoz war vor einem Jahr zur Trockenzeit zu den Ruinen aufgebrochen, wo zwei ihrer Brüder für einen Gringo eine ungewöhnliche Arbeit verrichteten. Der Enganchador, der die beiden angeworben hatte, hatte ihnen eine viel leichtere Tätigkeit versprochen als in den Monterías oder auf den Kaffeeplantagen, doch durften keine Frauen mitkommen. Maruch war über Manuels Fortgehen sehr unglücklich gewesen, und auch Ix Chel hatte sich Sorgen gemacht, denn sie wusste, wie selten die Versprechen von Ladinos sich als wahr erwiesen. So schlichen beide sich zusammen davon, um nach den Männern zu sehen. Ix Chel war von ihrer Mutter oft auf Ausflüge in den Dschungel mitgenommen worden, wo sie sich mit Verwandten aus ihrem Heimatdorf traf. Das war bei den Chol-Indianern ungewöhnlich, denn meistens wurden Mädchen angehalten, in der Nähe des Hauses zu bleiben und ihren Müttern zu helfen. Aber Ix Chels Mutter war eine Fremde, eine Wilde aus dem Dschungel, manchmal wurde deshalb auch schlecht über sie geredet, man nannte sie eine Hexe, die Leute mit bösen Flüchen belegen konnte. Aber das stimmte nicht. Genauso wenig war sie schamlos und trieb sich mit anderen Männern herum, obwohl die Leute das erzählten, weil sie aus einem Volk stammte, in dem Frauen die gleiche Kleidung wie Männer trugen. Ix Chels Mutter war ihrem Mann immer treu gewesen, auch wenn sie sich nicht an alle Regeln des Dorfes hielt.
Alice lauschte geduldig den Beteuerungen. Sie hatte bereits geahnt, dass die alte Ix Chel eine mutige, eigenwillige Frau war, daher überraschte es sie nicht zu hören, wie sie in der Enge einer traditionellen Dorfgemeinschaft immer wieder aneckte.
Jedenfalls hatte all dies zur Folge, dass die junge Ix Chel von ihrer Mutter lernte, sich im Dschungel zurechtzufinden, und daher die Strecke nach Palenque zurücklegen konnte, gemeinsam mit Maruch, die sie mit einiger Mühe davon überzeugt hatte, sie zu begleiten. Sie waren über vier Tage unterwegs, dann sahen sie die Bauwerke,
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