Der Duft des Regenwalds
in einem von ihnen. Sie kennen sie alle. Und über unser Auftauchen sind sie nicht wirklich überrascht.«
»Woher wussten sie, dass wir kommen?«, fragte Alice. Der Traum fiel ihr ein. Ix Chel hatte ihr zugelächelt, um sie willkommen zu heißen. Aber ihr Verstand wehrte sich gegen diese Erklärung.
»Wahrscheinlich haben sie uns schon eine Weile beobachtet, als wir durch den Dschungel wanderten«, erklärte Andrés. Er hatte recht, das klang wahrscheinlicher.
»Chan Nuk, so heißt die Heilerin, wird Ix Chel sicher Bescheid gegeben haben«, fuhr er fort. »Wenn wir Glück haben, dann ist sie bald hier.«
Alice spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, doch gleichzeitig überkam sie ein Gefühl tiefer Zufriedenheit. Sie saß irgendwo im Dschungel und wusste nicht, ob sie ihn jemals wieder verlassen würde. Aber sie war am Ziel.
»Komm nach draußen. Die anderen Leute im Dorf wollen dich sicher auch sehen«, forderte Andrés sie auf. Sie nickte knapp, obwohl ihr Magen sich verkrampfte. Sie musste sich dieser neuen Welt stellen.
Das Dorf bestand nur aus fünf Hütten. Alle Bewohner trugen die gleiche Kleidung, waren mit Arbeiten wie Weben, dem Schnitzen von Speeren und dem Sammeln von Holz beschäftigt, doch Alice’ Auftauchen sorgte dafür, dass alle Werkzeuge fallen gelassen wurden. In Windeseile war sie von neugierig starrenden, tuschelnden, kichernden Menschen umringt und fühlte sich wieder wie ein seltenes, in die Fremde verschlepptes Tier. Ein kleiner, würdevoller Mann rief ein paar Worte, und die Dorfbewohner wichen zurück, um ihm Platz zu machen. Mit langsamen Schritten trat er auf Alice zu. Seine Kleidung unterschied sich nicht von der seiner Stammesgenossen, doch er machte durch seine Haltung deutlich, der Anführer zu sein. Alice neigte den Kopf, in der Hoffnung, dies sei ein überall auf der Welt erkennbares Zeichen der Begrüßung. Er musterte sie schweigend. Dann sprach er ruhig ein paar Worte. Im Hintergrund erklangen Gespräche, die er mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Verstummen brachte.
»Ich denke, er will dich willkommen heißen«, versuchte Andrés zu übersetzen. »Er heißt Chan K’in und ist hier der Kazike.«
Alice wagte ein Lächeln, das der alte Mann nicht erwiderte. Sie verstand, denn ihr Vater hätte eine dahergelaufene, völlig fremde Frau mit Sicherheit auch nicht angelächelt. Zu viel Freundlichkeit konnte einem Mann von Autorität als Schwäche ausgelegt werden.
Chan K’in sprach noch ein paar Worte, dann mischte die Heilerin sich mit energischer Stimme ein und schob Alice wieder in die Hütte zurück. Andrés folgte. Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, setzte er sich auf den Boden, und Alice tat es ihm gleich. Die Heilerin Chan Nuk murmelte noch ein paar Worte, dann griff sie nach einer ausgehöhlten Kokosnussschale, um Alice einen Kräutersud einzuflößen. In diesem Augenblick erinnerte sie an eine fürsorgliche Großmutter. Alice trank die bitter schmeckende Flüssigkeit. Dann stellte sie erleichtert fest, dass Chan Nuk sie beide allein lassen wollte, da sie sich gestenreich verabschiedete. Sobald die Heilerin verschwunden war, schloss Andrés sie endlich in die Arme und gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Er war hier nicht so fremd wie sie.
»Ich dachte, du würdest sterben«, flüsterte er in ihr Ohr. »Und ich machte mir Vorwürfe, dich hierhergeschleppt zu haben.«
»Aber ich bin doch freiwillig mitgekommen. Und bald schon treffe ich die Geliebte meines Bruders. Das war mein Ziel, seit ich von seinem Tod erfahren habe.«
Mit einem beruhigenden Lächeln strich sie über seine Wange. Sie wusste nicht, wann es begonnen hatte, aber er war ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden.
»Ich weiß, du hörst es vermutlich nicht gern«, sagte er, »aber ich glaube, dass Ix Chel hier einen neuen Mann gefunden hat. Er scheint ein Sohn des Kaziken zu sein, soweit ich es verstanden habe.«
»Sehr lange hat sie nicht um meinen Bruder getrauert«, stellte Alice fest.
»Dazu fehlten ihr die Möglichkeiten. Auch hier kommt eine Frau ohne Mann schwer zurecht. Manche Männer haben sogar mehrere Frauen. Und eine Frau im Dorf scheint mit zwei Brüdern gleichzeitig vermählt zu sein«, erzählte Andrés kopfschüttelnd. »Deshalb haben diese Leute wohl einen so schlechten Ruf bei den anderen Indios. Sie kennen keine christliche Moral.«
Alice nahm es nickend hin. Im Augenblick war es unwichtig. Sie wollte endlich erfahren, was mit Patrick geschehen war. Dann
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