Der Duft des Regenwalds
haben willst.«
Alice seufzte.
»Ich fürchte, ich werde immer ein Stadtmensch bleiben.«
Es freute sie, dass er tröstend ihre Hand drückte.
»Ich kann dich verstehen. Hab Geduld. Und sei nicht immer so schrecklich misstrauisch.«
Trotz der neugierigen Blicke lehnte Alice den Kopf an seine Schulter. Er versteifte sich ein wenig, wich aber nicht zurück.
Sie musste warten. Die Bewohner dieses Dorfes empfanden weder Respekt noch Angst vor ihr, wie sie es bisher bei Indianern erlebt hatte. Sie war hier einfach eine Fremde, deren ungewöhnliches Aussehen Neugier weckte, aber man verhielt sich dennoch freundlich und ausgesprochen hilfsbereit. Trotzdem legten diese Leute viel Wert darauf, vor dem Rest der Welt verborgen zu bleiben. Alice war sich nicht sicher, ob man Fremde, die diese Welt entdeckt hatten, so einfach gehen lassen würde.
Sie verbrachten drei weitere Tage in der kleinen Hütte. Chan Nuk trug regelmäßig Essen herein, meist gebratene Papageien oder Fisch. Hinzu kamen Früchte und Maisfladen, die nicht ganz so flach waren wie die vertrauten Tortillas, aber dennoch gut schmeckten. Allein der Umstand, dass Nahrung stets gegen die auf dem Boden herumlaufenden Kakerlaken verteidigt werden musste, vergällte Alice manchmal die Freude am Essen. Brot, Milch und Aguardiente gab es hier nicht. Tabak war bekannt, denn er gehörte zu den Pflanzen, die auf den kleinen Feldern in der Umgebung angebaut wurden, und einige der Dorfbewohner liefen mit braunen Zigaretten im Mundwinkel herum. Andrés erzählte ihr, dass aber hauptsächlich bei rituellen Zeremonien geraucht würde. Der Tagesablauf im Dorf drehte sich um die Beschaffung von Nahrungsmitteln und die Versorgung der Nachkommen. Bei alldem hatte Alice keinen Platz. Andrés hingegen verließ regelmäßig die Hütte, um den Männern zu helfen, obwohl er ihnen bei der Jagd aus Mangel an Übung deutlich unterlegen war. Dass ein Indianer mit einer hellhäutigen, blonden Frau zusammenlebte, schien den Leuten eher ein Kuriosum denn ein Grund zur Empörung. Chan Nuk unternahm einige Versuche, der Fremden das Kochen und Weben beizubringen, und Alice ließ sich auf diese Unterrichtsstunden ein, da dadurch die Zeit schneller verging. Leider musste sie bald feststellen, dass ihren Händen die notwendige Geschicklichkeit fehlte, obwohl sie sich gewissenhaft bemühte. Die anderen Frauen brachen immer wieder in Lachen aus, wenn sie ihre schiefen Stoffbahnen oder die nach einer Ewigkeit noch nicht vollständig gerupften Papageien musterten, nur die alte Heilerin blieb unerschütterlich geduldig. Wahrscheinlich staunte man im ganzen Dorf über Andrés’ Bereitschaft, mit einer Frau zusammenzuleben, die ihn nicht angemessen versorgen konnte. Ihr Blondhaar aber schien den Männern zu gefallen, denn sie wurde oft auf sehr eindeutige Weise angestarrt. Hatten die Leute anfangs noch eine gewisse Scheu vor ihr empfunden, so legte diese sich sehr schnell, und Alice musste immer wieder Zudringlichkeiten abwehren, wenn mit kindlicher Neugier nach ihren Haaren gegriffen wurde. Zwischen diesen Dschungelbewohnern und den gleichzeitig ängstlichen sowie nicht selten verschlagenen Indios der anderen mexikanischen Orte lagen Welten.
Am vierten Tag öffnete sich die Tür der Hütte kurz nach Sonnenaufgang. Alice, die noch in Andrés’ Armen ruhte, richtete sich auf. Sie erwartete Chan Nuk und deren morgendliche Bananen oder Mangos. Doch eine weitaus jüngere Frau stand vor den Strahlen der aufgehenden Sonne und warf einen langen Schatten auf den Boden der Hütte. Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie eintrat.
»Alice«, murmelte sie, »Alice Wegener.«
Ihre Betonung zeugte von der Anstrengung, den Namen einer fremden Sprache auszusprechen, doch es klang so, als hätte die Frau lange geübt. Alice begann vor Aufregung zu zittern. Sie bemerkte, wie Andrés sich im Hintergrund schnell den weißen Kittel überzog, der Xikul genannt wurde, wie sie inzwischen wusste. Rasch folgte sie seinem Beispiel. Anzuklopfen war hier offensichtlich nicht üblich.
Die Frau kam langsam näher. Sie schloss die Tür nicht. Auf den ersten Blick sah sie nicht anders aus als die anderen Mädchen des Dorfes. Das pechschwarze, glanzlose, ungekämmte Haar fiel über ihre Schultern, ihr Gewand bedeckte die Knie, und sie trug keine Schuhe.
Auf Patricks Zeichnung hatte sie wesentlich hübscher ausgesehen, doch Alice konnte inzwischen auch indianische Gesichter unterscheiden. Es gab keinen Zweifel: Sie war am Ziel
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