Der Duft des Regenwalds
leise gesagt, als koste es ihn Überwindung, sie auszusprechen. Alice schüttelte ungläubig den Kopf. War das wieder eine von seinen Ausflüchten und Entschuldigungen?
»Aber womit denn? Das ist doch albern, ich meine …«
»Er wusste Dinge über meine Schwester, die sonst kaum jemand weiß. Der Kerl wirkte wie ein weltfremder Bücherwurm, doch in Wahrheit war er ziemlich berechnend und schlau«, unterbrach Juan Ramirez sie. Er machte eine kurze Pause, in der er Alice weiterhin mit einem schuldbewussten Blick fixierte. Männer guckten stets wie Hunde, wenn sie etwas ausgefressen hatten, dachte sie.
»Was kann er schon über die makellos schöne Rosario, die einen perfekten Haushalt führt und wahrscheinlich noch niemals in ihrem Leben eine Dummheit gemacht hat, herausgefunden haben?«, fragte sie spitz.
»Überleg doch einmal, und vergiss dabei, dass du meine Schwester nicht leiden kannst«, erwiderte er. »Ich sagte schon, meine Eltern hatten einen kleinen Verkaufsstand am Hafen, der uns gerade mal ernährte. Dann brach die Cholera aus, und wir wurden innerhalb von wenigen Tagen zu Waisen. Rosario war damals gerade fünfzehn Jahre alt, ich war zwölf. Verwandte, die uns hätten aufnehmen können, gab es nicht. Sie schuftete bis zum Umfallen, um den Stand behalten zu können, den ihr zum Glück auch niemand streitig machte. Aber es war einfach zu viel Arbeit für einen Menschen allein. Sie wollte, dass ich weiter in die Schule ging, dass etwas aus mir wurde, damit ich sie später gut versorgen konnte. Rosario träumte immer von einem besseren Leben, doch die ganze Schufterei half ihr nicht, es zu bekommen. Aber sie war eine Schönheit. Immer wieder erhielt sie eindeutige Angebote von wohlhabenden Señores. Und eines Tages nahm sie diese an.«
Alice atmete tief durch. Diese Vergangenheit also verbarg sich hinter der perfekten Fassade der Frau eines Kaffeebarons. Sie hatte bereits zu viele ähnliche Geschichten von den Mädchen im Café Josty gehört, um ernsthaft schockiert zu sein. Das Leben alleinstehender Frauen ohne Erbschaft oder besondere Fähigkeiten war verflucht hart.
»Hans Bohremann weiß nichts von dieser Geschichte?«
Es war eher eine Feststellung denn eine Frage. Sie schätzte den Kaffeebaron als fähigen, neuen Ideen gegenüber durchaus aufgeschlossenen Mann, aber eine ehemalige Hure hätte er niemals zum Traualtar geführt.
»Am Anfang dachte sie, er wäre wie die anderen«, erzählte Juan Ramirez weiter. »Es hatte sich am Hafen schnell herumgesprochen, dass sie für Geld zu haben war, und an Angeboten mangelte es ihr nicht. Doch sie litt unter diesem Leben, glaube mir. Manchmal musste sie sich übergeben, wenn sie spätnachts nach Hause kam. Einmal, da hatte sie blaue Flecken im Gesicht … aber dieser Deutsche, der behandelte sie wie eine Prinzessin, war tadellos höflich und lud sie zaghaft immer wieder ein, mit ihm ein bisschen den Malecon, also die Uferpromenade, entlangzuflanieren. Sie begriff nicht sofort, dass er nicht wusste, was sie war. Hans war damals nur ein paar Tage in Veracruz, doch er versprach, bald wiederzukommen. Rosario war niedergeschlagen. Sie wollte ihre Stammkunden nun abweisen, wurde von ihnen aber unter Druck gesetzt. Es waren einflussreiche Männer darunter, verstehst du? Rosario hatte keine Wahl, auch wenn sie Hans bereits aus tiefster Seele liebte.«
»Und er kam tatsächlich wieder, um sie zu heiraten.« Alice fasste die Geschichte zusammen. Viel Zeit für eine lange Werbung hatte er nicht gehabt, denn er war nur selten in Veracruz.
»Sie hoffte, er würde ihr vielleicht ein schönes Haus bauen, wo er sie regelmäßig besuchte. Viele reiche Männer haben eine oder mehrere Mätressen.« Juan Ramirez beharrte auf seiner ausführlichen Fassung der Geschichte. »Als er ihr dann plötzlich einen Heiratsantrag machte, fiel sie aus allen Wolken.«
»Sie hätte ihm die Wahrheit sagen sollen«, meinte Alice nach kurzem Überlegen. »Gerade weil er sich so anständig verhielt, hatte er es verdient.«
»Das sagst du nur, weil du ein verwöhntes, reiches Mädchen bist«, entgegnete er scharf, holte dann Luft, um etwas sanfter fortzufahren: »Sie hatte einfach Angst, er würde das Interesse an ihr verlieren und sie nicht einmal mehr als Mätresse wollen. Das hätte sie nicht ertragen. Sie wusste, dass Chiapas sehr weit weg von Veracruz ist und nur wenige Leute jemals dorthin reisen, schon wegen der schlechten Straßen. Daher hoffte sie, ihr Vorleben erfolgreich
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