Der Duft des Regenwalds
das Frühstück morgen gern in meinem Zimmer einnehmen, damit Julio nicht dauernd allein essen muss«, bat sie, bevor sie sich trennten. Sie hoffte, dass er sie nicht unhöflich fand, doch es würde ihnen beiden sicher guttun, die Unterhaltung im Patio erst einmal in Ruhe zu verarbeiten.
»Wie du möchtest«, erwiderte er gleichmütig und begleitete sie zur Treppe, die zu ihrem Zimmer führte. Dann verabschiedete er sich mit einem Kopfnicken. Alice ging davon aus, dass er nun eine Taverne aufsuchen würde, um seine enttäuschten Hoffnungen mit Aguardiente zu ertränken. Schon aus diesem Grund war er sicher erleichtert gewesen, als sie ihm vorschlug, das gemeinsame Frühstück morgen ausfallen zu lassen. Sie eilte die Stufen hinauf, um nach Julio zu sehen. Vielleicht würde er ihr ein paar Hinweise geben können, wo Andrés untergekommen war. Zwar verspürte sie kein großes Verlangen nach einem weiteren nächtlichen Ausflug in die Stadt, doch wenn sie unauffällige Kleidung anzog und ihr Haar unter einem Hut verbarg, hatte sie gute Aussichten, unbehelligt zu bleiben. Ungeduldig öffnete sie die Tür. Mariana sprang ihr freudig entgegen. Sie konnte den Hund mitnehmen. Er würde sich über die Gelegenheit zu einem Spaziergang sicher freuen.
Neben Julio stand ein leerer, schmutziger Teller auf dem Nachttisch, was deutlich machte, dass auch er sein Essen erhalten hatte.
»Da sind Sie ja, Señorita. Sehen Sie, was für mich gebracht wurde!«
Er wies auf ein Paar Krücken, die neben dem Bett abgelegt worden waren.
»Der Arzt, der heute hier war, hat sie geschickt. Extra für mich.«
Seine Augen leuchteten freudig, als sei dies der Lohn für besondere Leistungen. Alice lächelte zufrieden. Der Name Hans Bohremann war in dieser Gegend wirklich wie ein Zauberwort, das Wunder geschehen ließ.
»Hast du schon versucht, damit zu laufen?«
»Ich habe es bis zum Klosett geschafft, aber das war nicht einfach«, erklärte er stolz. Alice staunte. Laut Aussage des Arztes hatte er zwei gebrochene Rippen, außerdem waren ein Bein und ein Arm geschient worden. Dazu kamen zahlreiche Prellungen und Schürfwunden.
»Morgen helfe ich dir«, versprach sie. »Heute Abend musste ich noch einige Dinge klären.«
»Natürlich. Ich verstehe. Hat Andrés auch schon mit Ihnen gesprochen?«
Alice setzte sich seufzend auf die Bettkante und kraulte Marianas Ohren.
»Nein. Er hat das Hotel verlassen. Ich habe keine Ahnung, wo er jetzt ist. Weißt du vielleicht, wo ein Indio hier in der Stadt günstig übernachten kann?«
»Entweder bei Verwandten oder draußen«, sagte Julio grinsend. »Aber Andrés war hier und hat Sie gesucht. Ich habe ihm gesagt, dass Sie mit Don Juan im Patio sind. Dann ging er auch dorthin.«
»Aber nein, er ist nicht gekommen …« Alice erstarrte, als ihr die Schritte, die sie im Patio gehört hatte, wieder einfielen. Andrés musste die Umarmung von Juan Ramirez mitbekommen haben und auch den Heiratsantrag. An sich wäre das nicht schlimm, doch sie hatte ihm niemals etwas von ihrer Affäre mit Rosarios Bruder erzählt.
Er war einfach fortgegangen, ohne auf eine neue Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch zu warten. Ihre Enttäuschung und ihr Erschrecken begannen, sich mit Wut zu mischen, je länger sie überlegte. Sie wollte ihn anschreien und mit Vorwürfen überhäufen, weil er sich so einfach zurückgezogen hatte. Ihn fragen, ob sie ihm derart unwichtig war, dass er sie ohne jedes Bemühen aufgab, und ihm dann die Augen auskratzen. Vor allem aber wollte sie ihn so bald wie möglich sehen.
»Wo kann er nur hingegangen sein?«, fragte sie ratlos.
»Das weiß ich nicht, Señorita, aber er hat einmal erwähnt, dass er Verwandte in San Juan de Chamula hat. Tzotzils, wie auch er.«
»Wo ist dieses San Juan de Chamula?«
»Ein Indianerdorf in der Nähe von Jovel, also San Cristóbal. Wenn ich irgendwo in der Fremde bin und weiß, es leben Verwandte in der Nähe, dann würde ich dorthin gehen.«
Alice traf ihre Entscheidung ohne jedes Zögern. Es gab nur einen einzig möglichen Weg, den sie jetzt einschlagen konnte.
»Wie weit ist es dorthin?«
»Nicht weit. In ein paar Stunden ist man dort. Ich würde Sie gern begleiten, aber leider geht es nicht.«
»Das ist kein Problem«, versicherte Alice. »Aber sag mir bitte, wo ich morgen einen anderen Führer auftreiben kann.«
Alice nahm ihr Frühstück auf dem Zimmer mit Julio ein, wie sie es ihm versprochen hatte. Dann wartete sie eine Weile, ob Juan Ramirez
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