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Der Duft des Regenwalds

Der Duft des Regenwalds

Titel: Der Duft des Regenwalds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Zapato
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perfekte Beerdigung zu organisieren, nicht einmal zu Hause in Berlin. Allerdings fiel ihr auf, dass niemand weinte. Sie selbst hatte einen Teil ihrer Trauer um den toten Bruder bereits abgeschlossen, der Schmerz zerriss sie nicht mehr, sondern schwebte als dunkle Wolke über ihr. Nun galt es, sich in einem Leben zurechtzufinden, in dem Patricks Tod eine klaffende Lücke hinterlassen hatte.
    Der Anblick des Friedhofs riss sie aus ihrer Versunkenheit und holte sie zurück zu den leuchtenden Farben dieses Landes. Goldverzierungen umgaben kleine Paläste, in denen die reichen Anwohner der Stadt ihre Angehörigen beigesetzt hatten. Mittelalterliche Burgen, barocke Schlösser und auch die schönen Häuser von San Cristóbal waren in Miniaturform nachgebaut worden. Diese verspielten Produkte menschlicher Phantasie konnten dem Tod ein wenig von seinem Grauen nehmen.
    Der Pfarrer las einen kurzen Bibeltext, dann wurde Patricks Sarg in das Grab gesenkt und mit Erde zugeschüttet. Alice musterte den schlichten Grabstein, der nichts weiter aufwies als Patricks Namen und seine Lebensdaten. Vielleicht hätte sie Rosario einen Rat geben können, um das Grab wenigstens mit einem Spruch zu versehen, der zu ihrem Bruder passte. Doch welchen Sinn hätte dies gehabt? Sie würde vermutlich niemals mehr hierherkommen. Dass die Bohremanns Patricks Grab besuchen würden, schien ihr unwahrscheinlich, doch sie traute Rosario zu, jemanden mit dessen regelmäßiger Pflege zu beauftragen. Irgendwo in diesem Land gab es ein Indio-Mädchen, das Patrick als seine Frau bezeichnet hatte. Aber Ix Chel würde wohl niemals den Weg hierherfinden, auch wenn sie keine Schuld an seinem Tod trug. Alice’ Kehle wurde eng. War es wirklich richtig gewesen, den einfachsten Weg zu gehen und ihren Bruder hier in der Fremde beisetzen zu lassen? Würde er ihr grollen, weil sie sich in Verschwörungstheorien verstiegen und sein Tagebuch studiert hatte, anstatt seine Beerdigung sorgfältig zu planen? Dabei wusste sie nicht einmal, ob noch irgendetwas von dem, was Patrick gewesen war, existierte, um über ihr Verhalten zu urteilen.
    Gesichter zogen an ihr vorbei und sprachen Worte, die sie kaum verstand, da es ihr an Aufmerksamkeit mangelte. Dem ernsten Tonfall entnahm sie, dass es sich um Beileidsbekundungen handelte. Die Beerdigung näherte sich dem Ende. Alice lächelte krampfhaft, dann wurde ihr bewusst, dass man bei Beerdigungen naher Verwandter betrübt auszusehen hatte. »Ein paar Tränen wären jetzt wirklich angebracht«, mahnte Tante Gretes Stimme in ihrem Kopf, doch Alice gelang es nicht, sich angemessen zu verhalten. Obwohl sie gerade an der Existenz eines Gottes gezweifelt hatte, dankte sie ihm nun, dass die Anzahl der Trauergäste überschaubar war. In der Hazienda war eine kleine Trauerfeier geplant, doch es würde mindestens zwei Tage dauern, bis alle dort eingetroffen waren. Danach stand Alice’ Heimreise nichts mehr im Weg. Sie vermutete, dass die emsige Rosario bereits im Begriff war, auch diese zu organisieren.
    »Señorita Wegener, por favor.« Eine unbekannte Männerstimme riss Alice aus ihren Gedanken. Vor ihr stand ein mittelgroßer Herr in dunklem Traueranzug. Sein rundliches Gesicht wirkte eher nichtssagend. Alice konnte sich nicht erinnern, ihn jemals irgendwo gesehen zu haben, doch schien er ihr kein Mensch, an den man sich erinnerte. Er musste einer jener Staatsbeamten sein, die von den Bohremanns geladen worden waren, damit der Trauerzug nicht zu kurz ausfiel und Patrick angemessen verabschiedet wurde. Alice lächelte, eine mechanische Reaktion, die ihr einst eingebläut worden war, wenn sie den Gästen ihres Vaters vorgestellt wurde. Rasch schüttelte sie die Hand des Unbekannten, dessen Griff sehr fest war.
    »Ich müsste dringend allein mit Ihnen reden«, flüsterte er hastig, nachdem er sich mit einem raschen Seitenblick versichert hatte, dass niemand nahe bei ihnen stand. »Ich habe Ihren Bruder gekannt und weiß, wo seine indianische Geliebte sich aufhält.«
    Alice fühlte, wie schlagartig Leben in ihren erschöpften Körper kam und die Gedanken sich in ihrem Kopf überschlugen. Sie würde die heutige Nacht in einem Hotel verbringen und morgen schon sehr früh zu der Hazienda aufbrechen. Irgendwie würde es ihr gelingen, an diesem Nachmittag der Beobachtung der Bohremanns zu entkommen.
    »Am späten Nachmittag, so gegen sechs Uhr«, entgegnete sie leise. »Ich komme wieder zu dem Grab.«
    Man würde sicher Verständnis zeigen,

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