Der Duft des Regenwalds
aufhören zu können, so erbärmlich stank es hier. Ihre Schuhe waren bereits derart verdreckt, dass die hellbraune Farbe nicht mehr zu erkennen war, und leider hatte Alice es in der Eile nicht geschafft, ihren Rock zu raffen, indem sie ihn anhob. Sie würde sich in ihrem Hotelzimmer schnell umziehen müssen, damit niemand Verdacht schöpfte.
Ihr Begleiter rief ein paar Worte in der Indianersprache, und die Tür zu der Hütte ging auf. Ein kleiner bulliger Indio begann zu reden. Sein Atem roch derart nach Alkohol, dass Alice fast übel wurde. Dahinter tauchte eine Frau auf, doch das Gesicht war zu faltig, um Ähnlichkeit mit Patricks Zeichnung zu haben.
»Wo ist Ix Chel?«, drängte Alice.
»Drinnen. Wir müssen reingehen«, erwiderte der Mann. Alice graute es davor, diese elende, schmutzige Behausung zu betreten, aber sie sah ein, dass Patricks Geliebte nicht gesehen und erkannt werden wollte. Kurz hielt sie den Atem an, dann versuchte sie, sich an den Geruch von Fäulnis und Verwahrlosung zu gewöhnen, der sie wie ein böser Geist empfing. In dem Indio-Dorf in der Sierra Madre war die Einrichtung der Hütten ähnlich schlicht gewesen: ein Tisch, zwei Schemel und ein Mahlstein für die Zubereitung von Pozol und Tortillas. Doch hier wirkte all dies so heruntergekommen, dass Alice an die Worte von Dr. Scarsdale denken musste. Die Ureinwohner dieses Landes hatten ihre Würde verloren und waren zu elenden Sklaven geworden, die sich an kein anderes Leben mehr erinnern konnten.
»Wo ist Ix Chel?«, wiederholte sie laut und deutlich ihre Frage. Sie wollte keinen Moment länger als notwendig an diesem Ort bleiben.
Ein paar Worte wurden gewechselt. Der Indio hatte sich in eine Ecke gehockt und nippte an einer verdreckten Flasche. Seine Frau schob eine weitere Tür auf. Sie winkte Alice zu und wies in einen Hinterraum.
»Ist Ix Chel da drin?«
Die India antwortete nicht, deutete nur mit der Hand in die kleine Kammer. Alice trat zögernd einen Schritt näher. Sie konnte nichts weiter als braune Lehmwände entdecken, aber wenigstens schien es da drinnen weniger zu stinken.
»Dort wartet Ix Chel«, hörte sie die Stimme ihres Begleiters in ihrem Rücken, spürte plötzlich einen Stoß und taumelte über die Schwelle. Während sie versuchte, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, fiel die Tür hinter ihr zu. Alice stützte sich auf einem Tisch in der Mitte der Kammer ab. Sein Holz war morsch, und er wackelte, doch gab er ihr Halt. Verwirrt sah sie sich um. Der winzige Raum enthielt einen Strohsack, einen erstaunlich sauberen Nachttopf und eine Karaffe Wasser. Ansonsten herrschte nur gähnende Leere.
»Ix Chel ist nicht hier«, sagte sie leise, mehr zu sich selbst. Erst als ihr bewusst wurde, dass ihre Stimme ungehört blieb, drehte sie sich um und stieß gegen die Tür, die sich aber nicht mehr öffnen ließ. Alice begann zu treten, zu hämmern und empört zu schreien. Sie hörte andere Stimmen, die lachten, plauderten, manchmal auch brüllten, doch verstand sie kein Wort, denn niemand hier sprach Spanisch. Sie war allein unter Indianern. Ihr Begleiter musste diese elende Gegend bereits wieder verlassen haben.
Sie setzte sich auf den Strohsack und vergrub ihr Gesicht in den Händen, verzweifelt bemüht, die Panik niederzukämpfen und ihre Lage so klar wie möglich zu erfassen. Sie war in eine Falle getappt. Man hielt sie gefangen, doch sie wusste nicht, warum. Sobald im Hotel das Abendessen serviert wurde, würde ihre Abwesenheit auffallen. Vermutlich würden die Bohremanns jemanden in ihr Zimmer schicken, um nach ihr zu sehen. Dann müssten alle begreifen, dass sie verschwunden war. Zum ersten Mal war sie von Herzen froh, einen Mann wie Hans Bohremann zu kennen, der unter den einflussreichen Herren dieser Region zahlreiche Freunde hatte. War irgendeinem Angestellten aufgefallen, wie sie das Hotel verließ? In diesem Fall musste sie befürchten, dass man zunächst abwarten würde, ob sie nicht von selbst wiederkam. Aber spätestens nach Anbruch der Dunkelheit konnte sie mit einer gründlichen Suche in allen Straßen von San Cristóbal de las Casas rechnen. Kurz vermochte diese Vorstellung sie zu beruhigen, doch bald zersetzten Zweifel den kurzen Moment der Erleichterung. Wie sollte jemand ihre Spur in diese elende Hütte verfolgen und einen unauffälligen Mann ausfindig machen, mit dem sie sich nur kurz auf der Beerdigung unterhalten hatte? Doch sie würde sich nicht so einfach ergeben, wie ein dummes Lamm abwarten, ob sie
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