Der Duft des Regenwalds
wartete Mariana, deren Liebe bedingungslos war.
San Cristóbal de las Casas war eingebettet zwischen grün bewachsenen Bergen in einer Talebene, doch es lag nicht so tief wie Tuxtla Gutiérrez, denn es herrschte ein angenehm mildes Klima. Alice hatte in Mexiko bisher keinen schöneren Ort gesehen als diese Stadt mit den erbsengrünen, tomatenroten und zartrosa Häusern, in deren Patios duftende Blüten und Schaukelstühle zum Verweilen einluden. Sie fragte sich, warum das moderne, reizlose Tuxtla Gutiérrez zur Hauptstadt von Chiapas gewählt worden war. San Cristóbal konnte eine lange Geschichte aufweisen, denn es war bereits im 16. Jahrhundert als Villa Real de Chiapa gegründet worden und verdankte seinen gegenwärtigen Namen einer kleinen Kirche, die außerhalb der Stadt auf einem Hügel thronte. Der Zusatz »de la Casas« bezog sich auf den Bischof Bartolomé des las Casas, der sich vor Ort für die Rechte der Indianer eingesetzt hatte, doch gleichzeitig sollte er den Handel mit afrikanischen Sklaven angeregt haben, die deren Platz als Zwangsarbeiter einnahmen. All dies erfuhr Alice von einem unablässig plaudernden Juan Ramirez auf dem Weg zu der schmucken, barocken, senfgelben Kathedrale, in der die Totenmesse für Patrick stattfinden sollte.
Alice trug eine ihrer weißen Rüschenblusen und einen schwarzen Rock, denn Trauerkleidung besaß sie nicht. Zu der Beerdigung ihres Vaters hatte Tante Grete sie nicht eingeladen, und selbst wenn, so hätte sie das schwarze Kleid sicher nicht nach Mexiko mitgenommen. Hans Bohremanns weißen Hemdsärmel zierte eine Trauerbinde. Rosario sah auch in Schwarz sehr schön aus, hatte ihr Haar zu einem tadellosen Knoten gebunden und hörte dem Gerede des Priesters mit unbewegter Miene zu. Ein schwarzer, gehäkelter Schleier bedeckte ihren Kopf ebenso wie den von Alice. Es war nicht einfach, die Abfolge von Knien, Stehen und Sitzen, wie sie bei katholischen Messen üblich war, zu begreifen. Alice folgte dem Beispiel der spärlichen Anwesenden und hatte das Gefühl, Teil einer Gruppe von Marionetten zu sein, die von unsichtbaren Schnüren gezogen wurden. Die üppige Farbenpracht der Kleidung des Priesters und der Ausgestaltung des Kirchengebäudes reizte ihr Auge, doch gleichzeitig überkam sie ein Gefühl des Unbehagens. An der Wand hinter dem Altar prangte für ihren Geschmack entschieden zu viel Gold. Sie mochte diesen von Heiligen und Mysterien beherrschten Glauben nicht. Der Priester predigte auf Latein, doch sie hätte ihn auf Spanisch vermutlich ebenso wenig verstanden.
Patricks Leichnam lag vor dem Altar in einer schwarzen Kiste. Er hatte darin bereits im Leichenhaus von Tuxtla Gutiérrez gewartet, um entweder nach Deutschland verschifft oder in mexikanischer Erde beigesetzt zu werden. Von einer Öffnung des Sarges anlässlich der Beerdigung hatte man abgeraten, und Alice hatte ohne Zögern zugestimmt. Sie fürchtete sich davor, einen Toten zu sehen. Patricks toter Körper war für sie nichts weiter als eine leere Hülle. Alles, was von ihrem Bruder blieb, waren Erinnerungen.
Sie mochte den Geruch von Weihrauch nicht, und die schwermütige Orgelmusik, die einsetzte, bedrückte sie. Sie ballte die Hände zu Fäusten, um die Fassung zu wahren. Als die Musik verstummte und die Kirchenbänke um sie herum sich zu leeren begannen, atmete sie erleichtert auf. Nun wurde Patricks Sarg hinausgetragen. Alice, die sich hinter dem Priester in den Trauerzug einreihte, wandte kurz den Kopf, um zu sehen, wer sie begleitete. Dr. Scarsdale war gekommen, doch er wirkte geistesabwesend, als sei auch er nicht empfänglich für die Macht uralter Rituale. Dann folgten die Bohremanns, Juan Ramirez und ein paar Beamte aus Tuxtla Gutiérrez, die zu dem weitläufigen Freundeskreis des Kaffeebarons gehörten. Von den anderen deutschstämmigen Plantagenbesitzern war keiner gekommen. Alice führte dies darauf zurück, dass Patrick den Umgang mit wohlhabenden Menschen meist gemieden hatte, obwohl er durch sein Erbe einer von ihnen geworden war.
Der Friedhof lag außerhalb der Stadt, sodass sie eine längere Strecke zurücklegen mussten. Ein paar Trompeter folgten dem Trauerzug. Ihre Melodie war dem Anlass entsprechend feierlich, doch nicht ganz so schwermütig wie die Orgelmusik in der Kirche. Alice betrachtete die zahllosen farbenfrohen Kränze auf Patricks Sarg und beschloss, dass sie sich noch im Laufe des Nachmittags bei Rosario bedanken würde. Sie selbst hätte es niemals geschafft, eine so
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