Der Duft des Regenwalds
Hausherrin schritt hinaus. Alice atmete tief durch. Sie kam nicht gegen das Gefühl an, sich blamiert zu haben, doch sie verscheuchte diesen missliebigen Gedanken aus ihren Kopf. All dies war jetzt nicht wichtig.
Juan Ramirez betrat mit der üblichen Gelassenheit das Zimmer. Sein Hemd war frei von Flecken, wenn auch am Kragen falsch geknöpft. Bartstoppeln wucherten auf Kinn und Wangen, als habe er in den letzten Tagen sein Äußeres in ungewohnter Weise vernachlässigt.
»Meine Schwester sagte, dass Sie mich sehen wollen, Mademoiselle Wegener.«
Alice glaubte, ein freudiges Funkeln in seinen Augen wahrzunehmen. Wider Willen wurde ihr warm ums Herz.
»Haben Sie jemandem davon erzählt, dass ich das Tagebuch meines Bruders gefunden habe?«, sprudelte es aus ihr heraus. Das Leuchten in seinen Augen erlosch, während seine Mundwinkel leicht nach unten sackten.
»Ich bitte Sie, Mademoiselle, ich bin kein Klatschweib, und so wichtig war es auch nicht, dass Ihr Bruder ein Tagebuch schrieb.«
Er hob lächelnd die Hände. Für einen Moment kam Alice sich hoffnungslos albern vor.
»Jemand hat sich in mein Zimmer geschlichen, als ich auf der Plantage war, und meinen Hund getreten«, erklärte sie. Juan Ramirez zog in gewohnt lässiger Weise eine Augenbraue hoch.
»Vielleicht störte ihn das Gebell. Ich vermute, es war ein Bediensteter, dem es missfiel, dass ein Straßenhund in einem schöneren Raum leben kann als er selbst und dabei noch schrecklichen Lärm macht.«
Alice blieben für einen Augenblick die Worte im Hals stecken, denn diese Erklärung klang durchaus einleuchtend.
»Aber … aber mein Koffer wurde schon einmal durchsucht. In dieser Herberge von Elaine Palmer. Die Señora Duarte hat es mir bestätigt. Sie sah, wie jemand hinausging, und das war nicht ich, denn ich war mit Elaine noch unten.«
Juan Ramirez setzte sich auf einen freien Stuhl und streckte die Beine aus.
»Die alte Dame tratschte offenbar gern. Wurde etwas gestohlen?«
»Nein. Aber ich habe gemerkt, dass jemand den Koffer durchwühlt hatte.«
»Alice … ich meine, Mademoiselle Wegener. Setzen Sie sich doch für einen Moment. Sie scheinen mir sehr aufgebracht.«
Mit großzügiger Geste wies er auf einen Stuhl. Alice gehorchte.
»Also«, begann Juan Ramirez, »Ihre Sachen waren durcheinandergeraten, und die Señora Duarte erzählte von einem unbekannten Eindringling. Was ist Ihrer Meinung nach die naheliegendste Erklärung?«
Alice schnaubte leise.
»Diese Idee hatte ich zunächst auch. Aber die alte Dame schien mir zu anständig. Ich glaube einfach nicht, dass sie so etwas tun würde.«
»Und ich«, erwiderte er unerbittlich, »ich glaube es durchaus. Eine junge Frau aus der Fremde, die sich ungewöhnlich benimmt und auch noch ungewöhnlich schön ist, das beflügelt die Phantasie einer alternden Frau, die vielleicht einiges in ihrem Leben versäumt hat. Vielleicht wollte sie einfach nur Ihr Parfum riechen oder anrüchige Bilder finden. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass Sie sich in die Idee einer Verschwörung hineinsteigern, die allein in Ihrem Kopf existiert.«
Er streckte eine Hand aus. Alice folgte einem inneren Impuls und legte ihre Finger in die seinen. Die Berührung jagte ein nervöses Kribbeln über ihren Rücken, tat aber erstaunlich gut.
»Mein Schwager sagte mir, dass Sie bald nach Hause fahren wollen«, fuhr Juan Ramirez fort. »Das ist sehr vernünftig. Sie brauchen die Ruhe einer vertrauten Umgebung, die Nähe von Verwandten und Freunden. Dort werden Sie Trost finden und endlich begreifen, dass Ihr Leben weitergehen muss, auch wenn Sie einen geliebten Bruder verloren haben. Wenn Sie wünschen, dann begleite ich Sie wieder nach Veracruz.«
Alice senkte verwirrt den Blick. Ihr Herz schlug schneller, als es sollte. Sie war glücklich, doch hinter diesem Glück lauerte Schmerz. Juan Ramirez wollte bei ihr sein, solange sie sich noch in Mexiko aufhielt, doch dann würde er sie einfach auf einen Dampfer verfrachten und fortschicken.
Sie straffte die Schultern. Die letzten drei Jahre ihres Lebens hatte sie von Unabhängigkeit geträumt, und nun bestimmte das Verhalten dieses eitlen, trägen Gecken ihr Lebensgefühl. Wenn er sie nach der Abreise vergaß, gab es keinen Grund für sie, ihn nicht ebenso als belanglose Episode in ihrem Leben zu betrachten.
»Es liegt bei Ihnen, ob Sie mich begleiten wollen oder nicht«, erwiderte sie kühl, stand auf und betrat wieder den Patio, um in ihr Zimmer hinaufzugehen. Dort
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