Der Duft des Regenwalds
dass sie noch einmal in Ruhe Abschied von Patrick nehmen wollte, bevor sie Mexiko endgültig verließ.
Das Hotel lag im Stadtkern, in unmittelbarer Nähe des Arco Torre del Carmen, einem stämmigen roten Turm im maurisch anmutenden Stil mit weißer Verzierung, der bereits im 17. Jahrhundert erbaut worden und einst der Glockenturm der benachbarten Kirche gewesen war. Alice hatte den Wunsch geäußert, sich vor dem Abendessen eine Weile auszuruhen, und schlich dann unbemerkt davon. Den Weg zum Friedhof hatte sie sich eingeprägt, wusste aber, dass ihr ein längerer Fußmarsch bevorstand. Leichtes Unbehagen überkam sie, denn ihre Erinnerung an den ersten Ausflug, den sie ganz allein in einer mexikanischen Stadt unternommen hatte, waren nicht die besten, doch Neugier und Aufregung trieben sie vorwärts. Vielleicht würde sie bald schon herausfinden, was wirklich mit ihrem Bruder geschehen war.
Sie bog auf eine breite Straße ein, die von bunt gestrichenen Häusern gesäumt wurde. Überall liefen Indios herum, denn in Chiapas machten sie noch eindeutig den Großteil der Bevölkerung aus. Ihre Frauen brieten Tortillas, versahen Stoffe mit den für ihre Kleidung eigentümlichen, kunstvollen Stickereien oder spielten mit ihren Kindern, von denen auf jede Frau, ganz gleich, wie jung sie war, mindestens vier kamen. Trotz ihrer unübersehbaren Armut wirkten sie bei alldem glücklich. Die Männer schleppten manchmal Lasten oder schoben Karren. Dabei wichen sie den hohen, schmalen Bürgersteigen vor den Häusern aus, die sie nicht betreten durften. Doch oft lagen sie einfach nur herum und regten sich kaum, während Vorbeigehende über sie hinwegstiegen.
Alice hastete aus der Stadt hinaus. Als sie den fast menschenleeren Friedhof erreicht hatte, begann die Sonne bereits zu sinken. Die Nacht brach in den Bergen sehr schnell herein und verdrängte die sommerliche Wärme des Tages, sodass es in diesem Teil Mexikos so frisch werden konnte wie in Alice’ Heimat. Alice blieb stehen, um Luft zu holen und sich umzusehen, denn sie wusste nicht mehr genau, in welcher Richtung Patricks Grab lag. Mit gerunzelter Stirn versuchte sie, Bilder aus ihrer Erinnerung heraufzubeschwören, und kam zu dem Ergebnis, dass sich eine kleine weiße Kapelle hinter ihr befunden hatte, als Patrick beigesetzt wurde. Während sie in die ungefähre Richtung lief, überlegte sie, ob sie den unbekannten Mann wiedererkennen würde, denn er hatte ausgesehen wie tausend andere Mexikaner auch. Vermutlich war es ihm deshalb gelungen, unbemerkt auf der Beerdigung aufzutauchen und nach seiner kurzen Unterhaltung mit ihr wieder zu verschwinden.
Wider Erwarten erkannte sie ihn sofort, als er ungeduldig um das Grab ihres Bruders herumlief. Seine Pünktlichkeit überraschte sie angenehm, denn in diesem Land war sie keine Selbstverständlichkeit. Er nickte zur Begrüßung.
»Kommen Sie schnell. Sie haben sicher nicht viel Zeit.«
Seine Hand legte sich mit eisernem Griff um die ihre. Alice widersetzte sich.
»Wo wollen Sie mit mir hin? Wie heißen Sie überhaupt, und woher kannten Sie meinen Bruder?«
Der Mann warf ihr einen verärgerten Blick zu.
»Das erzähle ich Ihnen später. Die Geliebte Ihres Bruders wartet auf Sie.«
Alice lief aufgeregt ein paar Schritte mit.
»Ix Chel?«
Der Mann drehte sich noch mal zu ihr um.
»Was haben Sie gesagt?«
»Ix Chel heißt die Geliebte meines Bruders. Wie kommt sie überhaupt hierher? Und ist Andrés Uk’um auch hier?«
»Später. Sie erfahren alles später.«
Alice wurde weitergezogen, während eine mahnende Stimme in ihrem Kopf immer lauter wurde. Diese Situation gefiel ihr nicht. Auf einem öffentlichen Friedhof hatte sie sich mit dem Fremden sicher gefühlt, doch nun zog er sie entschlossen in Richtung Stadt. Alice hoffte, bald schon die hübsch bemalten Kirchen und Häuser sehen zu können, was ihr ein Gefühl der Sicherheit gegeben hätte. Ihr Begleiter aber hatte nicht den Kern der Stadt als Ziel gewählt. Er führte sie durch immer enger und schmutziger werdende Gassen, die hauptsächlich von Indianern bewohnt wurden. Das passte, denn wo sonst würde Ix Chel sich verstecken? Der Drang, dieser India, deren Bild sie lange ratlos betrachtet hatte, endlich gegenüberzustehen, wurde übermächtig, sodass Alice gehorsam mitlief.
Schließlich erreichten sie eine schlichte Lehmhütte, die zwischen niedrigen, ähnlich verwahrlosten Gebäuden eingezwängt war. Alice wünschte sich, für eine Weile mit dem Atmen
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