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Der Duft des Regenwalds

Der Duft des Regenwalds

Titel: Der Duft des Regenwalds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Zapato
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strahlenden Sonnenschein draußen. Wieder kroch Panik in ihr hoch. Sie stützte sich an der Wand ab, während ihre Augen sich langsam an das Dunkel gewöhnten. Im Hintergrund raschelte es. Alice holte Luft.
    »Señor Uk’um?«
    »Sí.«
    Eine Gestalt erhob sich von einem Haufen Stroh und kam langsam auf sie zu. Alice trat wider Willen einen Schritt zurück. Befand sie sich nun in einem engen Raum mit einem blutrünstigen Mörder? Sie zwang sich, ihre Atmung zu kontrollieren. Wenn sie hysterisch wurde, machte sie sich endgültig zum Gespött der Hazienda.
    »Was wünschen Sie?«
    Die Stimme klang ruhig und vernünftig, was Alice ein wenig beruhigte. Sie sah den Sprecher an, erkannte im Dunkeln die Umrisse eines indianischen Gesichts mit markanten Wangenknochen und schmalen Augen, die hinter Brillengläsern verborgen waren. Diese Unstimmigkeit weckte in ihr den Wunsch nach ihrem Skizzenblock, denn sie hatte in Mexiko bisher keinen Indio gesehen, der eine Brille trug. Das rechte Brillenglas war zerbrochen. Der vermeintliche Mörder ihres Bruders war hochgewachsen für einen mexikanischen Indianer, er überragte Alice um einige Zentimeter. In Europa hätte man ihn als mittelgroß bezeichnet. Eine Schwellung verunstaltete seine rechte Wange, und an einem Mundwinkel war verkrustetes Blut zu sehen. Seine Verhaftung in einem kleinen Indio-Dorf in den Bergen war nicht ohne Gewaltanwendung abgelaufen.
    »Sie sind Patricks Schwester, nicht wahr? Die Malerin.«
    Er hatte englisch gesprochen, mit amerikanischem Akzent. Alice fühlte sich an Dr. Scarsdale erinnert.
    »Wie haben Sie mich erkannt?«
    Er lachte.
    »Patrick hat viel von Ihnen gesprochen. Und es gibt nicht viele blonde Frauen in Chiapas.«
    Alice sah ein, dass ihre Frage dumm gewesen war.
    »Ich bin Alice Wegener«, stellte sie sich vor, obwohl es unnötig war. »Und ich möchte eine Weile mit Ihnen reden.«
    »Natürlich. Warum nicht? Dort in der Ecke ist ein Stuhl. Setzen Sie sich.«
    Alice kam der Aufforderung nach. Andrés ging vor ihr in die Hocke und nahm seine Brille ab. Seine Augen wurden dadurch größer. Sie staunte über deren klugen, klaren Blick. Wäre sie diesem Mann unter anderen Umständen begegnet, hätte sie ihn zunächst einmal als außergewöhnlich intelligent eingeschätzt. Er schien zu beobachten, abzuwägen und vorsichtig in seinem Urteil zu sein. Diese Ausstrahlung flößte ihr Vertrauen ein, was sie verwirrte. Sie hatte während des Gesprächs Distanz wahren und sich langsam der eigentlichen Frage nähern wollen. Nun allerdings sprach sie einfach aus, was ihr auf dem Herzen lag.
    »Haben Sie meinen Bruder getötet?«
    Wieder lachte er auf, und das machte sie wütend.
    »Nein«, erwiderte er ohne jedes Zögern. »Und ich bedauere von Herzen, was Patrick widerfahren ist, denn ich mochte ihn. Aber wenn ich schuldig wäre, würde ich Ihnen eine ähnliche Geschichte erzählen. Meine Antwort hilft Ihnen nicht weiter, Miss Wegener.«
    Sie rutschte auf dem Stuhl herum. Diese Direktheit war entwaffnend und raubte ihr die letzte Stütze durchdachter, geplanter Gesprächsführung.
    »Warum sind Sie geflohen, wenn Sie unschuldig sind?«, fragte sie. Er schwieg eine Weile, musterte das Stroh, auf dem er saß.
    »Ihr Bruder war zu der Plantage unterwegs. Er wollte mit Hans Bohremann reden, der sich gerade dort aufhielt. Es hätte ein unangenehmes Gespräch werden können, denn obwohl er seinen Landsmann mochte, wollte er ihm schwere Vorwürfe machen. Ix Chel und ich begleiteten ihn. Ich ging los, um nach einem Dorf zu suchen, wo ich Nahrung besorgen konnte. Patrick wäre für andere Indios nicht vertrauenswürdig gewesen. Als ich zurückkam, waren er und Ix Chel verschwunden. Ich suchte vergeblich die Gegend ab, dann lief ich wieder in das Dorf und verbrachte dort den Rest der Nacht. Am nächsten Tag konnte ich ein paar Männer aus dem Dorf überreden, mir bei der Suche zu helfen. Wir fanden Patricks Leichnam an jener Stelle, wo ich mich von ihm getrennt hatte. Jemand musste ihn über Nacht wieder dort hingebracht haben.«
    Er verstummte für einen Moment und rieb sich die Augen. Alice musterte ihn staunend. Zum ersten Mal hörte sie eine zusammenhängende Beschreibung der Ereignisse.
    »Was geschah dann? Warum liefen Sie einfach weg und ließen meinen Bruder liegen?«, fragte sie ungeduldig.
    »Der Kazike des Dorfes sagte, wir sollten alle verschwinden, denn man würde uns für den Mord verantwortlich machen. Ich wusste, dass er recht hatte, also gehorchte

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