Der Duft des Regenwalds
blutige Element des christlichen Glaubens bewusst geworden, doch sie war nicht hier, um mit diesem Mann darüber zu diskutieren, ob Indianer von Natur aus brutaler waren als Weiße oder nicht.
»Haben Sie Hans Bohremann schon erzählt, was Sie über Patricks Tod wissen?«, fragte sie. »Es könnte dabei helfen, den richtigen Mörder zu finden. Und ich halte es für angebracht, dass die Region nach Ix Chel abgesucht wird. Vielleicht lebt sie ja noch und hat sich ebenfalls irgendwo versteckt.«
Erwartungsvoll sah sie jenen Mann an, mit dem sie das vernünftigste Gespräch seit ihrer Ankunft in Veracruz führte. Er stützte sich mit den Händen ab und streckte die Beine aus, als sei ihm das Sitzen in der Hocke zu anstrengend geworden.
»Hans Bohremann hat mich bisher nicht nach meiner Version der Geschichte gefragt. Für ihn ist meine Schuld daher beschlossene Sache.«
»Aber es wird eine Gerichtsverhandlung geben«, warf Alice ein. »Das bedeutet, Sie bekommen auch einen Anwalt. Hans Bohremann legt Wert auf Gerechtigkeit.«
Wieder stieß Andrés das trockene, spöttische Lachen aus.
»Hans legt vor allem Wert auf ein reines Gewissen, doch darin unterscheidet er sich positiv von den anderen Patrones hier. Aber die Gerichtsverhandlung wird mir nichts nützen. Ich bin Indio, gelte als Aufwiegler, und nach Patricks Ermordung bin ich geflohen, was einem Schuldgeständnis gleichkommt. Wenn ich meine Gründe dafür angebe, hinterfrage ich die hiesige Justiz, und das wird niemandem gefallen.«
Alice schüttelte unwillig den Kopf. Es musste einen Ausweg aus dieser Situation geben.
»Aber ein guter Anwalt kann sicher …«
»Ein guter Anwalt wird keinen Indio verteidigen. Vor allem nicht in Chiapas, wo uralte Hierarchien sich ungestört halten konnten, da Reformen auf den unzulänglichen Straßen durchs Gebirge stecken geblieben sind. Ein junger, unbekannter Berufsanfänger wird die Aufgabe zugeteilt bekommen, mich zu verteidigen, und sie widerwillig ausführen, denn seinem beruflichen Werdegang ist das nicht förderlich. Aber ich will es den Leuten leicht machen. Ich werde gestehen.«
Sie stand so rasch auf, dass der Stuhl hinter ihr ins Wanken geriet.
»Das ist doch feige, so einfach aufzugeben!«, rief sie. »Patrick hätte nicht gewollt, dass seinetwegen ein Unschuldiger stirbt.«
Andrés hob abwehrend die Hände.
»Es geht hier nicht nur um Ihren Bruder. Wenn ich aussage, muss ich die Namen der anderen Indios nennen, in deren Dorf ich mich aufhielt, als Patrick starb. Man wird auch sie nach Tuxtla Gutiérrez bringen und dort erst einmal ins Gefängnis werfen, damit sie nicht davonlaufen. Eine Suche nach Ix Chel macht alles nur noch schlimmer. Dann fallen Truppen der Regierung über alle Dörfer der Umgebung her. Am Ende werden außer mir noch etliche andere Leute darunter leiden müssen, dass irgendjemand Patrick auf so bestialische Weise getötet hat. Den Täter wird man nicht finden, sondern mich und vielleicht noch ein paar Männer aus dem Dorf schuldig sprechen und hinrichten. Wenn ich gleich gestehe und alle Schuld auf mich nehme, dann sterbe wenigstens nur ich.«
Alice stampfte mit dem Fuß auf.
»Ich … ich kann das alles nicht glauben. Ich will Patricks Mörder finden. Und Ix Chel ausfindig machen. Warum sollte das unmöglich sein?«
Andrés beugte sich vor und begann mit eindringlicher Stimme zu sprechen.
»Fahren Sie nach Hause, Miss Wegener. Patrick hätte nicht gewollt, dass Sie seinetwegen in Schwierigkeiten geraten, und das wird geschehen, sobald Sie sich mit der hiesigen Obrigkeit anlegen. Was würde es Ihnen nützen, die Wahrheit zu erfahren? Es macht Ihren Bruder nicht wieder lebendig. Vielleicht fiel er Banditen zum Opfer. Von denen gibt es hier mehr als genug, und sie fassen zu wollen ist nahezu aussichtslos. Wenn es Ihnen hilft, dann reden Sie sich ein, ich hätte ihn ermordet und erhalte die gerechte Strafe dafür. Sie können ja nicht wissen, ob ich Sie nicht die ganze Zeit anlüge.«
Alice schluckte. Sie konnte es in der Tat nicht wissen. Doch dieser Mann strahlte eine geduldige Gewissenhaftigkeit aus. Deshalb war es ihm auch gelungen, Maschinen zu reparieren, ganz ohne die Beschwörung von Geistern.
»Seit ich hier angekommen bin, raten mir alle Leute, dieses Land wieder zu verlassen«, sagte sie. »Langsam kommt mir das vor wie eine Verschwörung, um mich schnellstmöglich loszuwerden.«
»Aber nein«, entgegnete Andrés, »es ist nur ein gut gemeinter Rat von Leuten, die nicht
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