Der Duft des Regenwalds
wollen, dass eine schöne Frau zu Schaden kommt.«
Während Alice nach einer passenden Antwort suchte, hämmerte es an die Tür.
»Das Gespräch ist beendet, sagt der Patron«, rief jemand auf Spanisch. Alice schnaubte, doch sie beschloss, Andrés’ Rat zu folgen und sich nicht mit der Obrigkeit anzulegen.
»Ich werde wiederkommen, Señor Uk’um«, versprach sie, während sie ins gleißende Licht des Hofes trat.
Sie ging in ihr Zimmer, wo Mariana auf sie wartete. Rosario Bohremann hatte ihr gestattet, den Hund dreimal täglich im Hof herumlaufen zu lassen, damit er sein Geschäft verrichten konnte, doch ansonsten hatte er sich nicht im Freien aufzuhalten. Sie stellte erleichtert fest, dass keiner der Bohremanns auf sie wartete, um zu erfahren, wie das Gespräch verlaufen war. Doch unmittelbar vor ihrer Tür erblickte sie ein sehr vertrautes Gesicht. Ihr Magen verkrampfte sich, sie konnte nicht sagen, ob aus Freude, vor Aufregung oder Unbehagen. Seit der Nacht in San Cristóbal de las Casas hatte sie nicht mehr unter vier Augen mit Juan Ramirez gesprochen.
»Alice, kann ich hereinkommen?«
Sie nickte, denn alles andere wäre unhöflich gewesen.
»Werden die Dienstboten nicht tratschen?«, fragte sie.
»Das werden sie nicht wagen, jedenfalls nicht laut. Meine Schwester hat sie gut im Griff.«
Es fiel Alice nicht schwer, das zu glauben. Sie kraulte Mariana, die erfreut an ihr hochsprang, und setzte sich dann auf ihren Stuhl. Juan Ramirez nahm nach kurzem Zögern auf dem Bett Platz. Alice vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Nun, da sie sich allein in einem geschlossenen Raum befanden, beide nüchtern und mit klarem Kopf, war die Spannung fast greifbar, als stünde eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen, an der sie sich ratlos entlangtasteten. Sie wusste nicht, was sie sich von diesem gut aussehenden Lebemann erhoffte oder was er in ihr sah. Sie wollte nicht fragen.
»Wie verlief die Unterhaltung?« Er durchbrach als Erster die peinliche Stille.
»Aufschlussreich. Er sagt, er sei unschuldig. Mir scheint er glaubwürdig.«
»Das hatte ich befürchtet. Natürlich sagt er das. Welcher Mörder ist schon gleich geständig? Warte die Gerichtsverhandlung ab, dann wird sich alles klären.«
Kurz stieg ein Sturm des Protestes in Alice auf, aber dann glätteten sich die Wogen. Allmählich begann sie, dieses Land zu verstehen. Welchen Sinn machte es, mit Leuten zu diskutieren, deren Meinung bereits feststand? Sie wollte allein sein, um in Ruhe nachdenken zu können.
»Wann wird Andrés Uk’um nach Tuxtla Gutiérrez gebracht?«, fragte sie. Juan Ramirez entspannte sich ein wenig.
»In drei oder vier Tagen. Hans hat schon eine Nachricht an den Provinzgouverneur geschickt. Wir warten auf die Antwort.«
»Gut«, sagte Alice, »dann warten wir.«
Juan Ramirez musterte sie eindringlich, schien auf ein Zeichen zu warten. Als es nicht kam, stand er verlegen auf.
»Wir sehen uns beim Abendessen«, sagte er lächelnd und ging hinaus.
Alice streckte sich erleichtert auf dem Bett aus und streichelte Mariana, die zu ihr gekommen war. Fast bedauerte sie es, dass der schöne Mexikaner sie verlassen hatte, doch ihr Kopf war nicht frei für jene Art der angenehm kribbelnden Liebschaft, die sie mit Harry erlebt hatte. Ihre Gedanken kreisten um diesen Indio, der in einem winzigen Raum saß und auf seine Hinrichtung wartete, die sie verhindern oder hinauszögern musste. Leider hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie sie dabei vorgehen konnte. Vielleicht konnte sie aus Tuxtla Gutiérrez ein Telegramm an die deutsche Botschaft in der mexikanischen Hauptstadt schicken oder an einen von Patricks Anwälten in Berlin. Doch selbst wenn es ihr gelingen würde, gegen den Einfluss Hans Bohremanns aufzubegehren – sollte Andrés Uk’um tatsächlich gestehen, wäre alles umsonst.
Erschöpft schloss sie die Augen, sah wieder das indianische Gesicht mit den ernsten, klugen Augen vor sich. Andrés hatte sie eine schöne Frau genannt, die nicht zu Schaden kommen sollte. Es war ein netter Spruch gewesen, ohne besondere Bedeutung. Für gewöhnlich hasste sie solche Floskeln, doch nun freute sie sich aus unerklärlichen Gründen, ihm gefallen zu haben. Sie lächelte, dann wurde ihr bewusst, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, sich in selbstverliebter Eitelkeit zu ergehen.
»Ich bin wohl ein hoffnungsloses Weibchen, sosehr ich auch modern und unabhängig sein will«, flüsterte sie in Marianas Ohr. »Aber trotzdem muss ich einen klaren
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