Der Duft des Regenwalds
ich. Dann brachte man mich in ein entlegenes Dorf. Dort versteckte ich mich, bis mich jemand gegen Bezahlung verriet.«
Alice atmete tief durch. Tränen liefen über ihre Wangen, denn sie glaubte, den toten Patrick vor sich zu sehen und sein Blut zu riechen.
»Was ist mit Ix Chel?«
»Ich habe sie seit jenem Abend nicht mehr gesehen. Entweder wurde sie auch umgebracht, oder sie ist geflohen. Ich weiß nicht viel über sie, nur dass sie aus dem Regenwald in der Nähe von Palenque stammte. Dort wird ein ganz anderer Dialekt gesprochen als hier. Ich kann nur Tzotzil. Patrick hatte ihr ein wenig Deutsch beigebracht, aber das half mir nicht viel. Patrick und sie waren sehr ineinander verliebt, das konnte jeder sehen.«
»Kann es sein, dass er ihretwegen getötet wurde? Von Angehörigen ihres Stammes, die vielleicht zornig waren, weil sie sich mit einem Fremden eingelassen hatte?«
Er lachte erneut, und Alice spürte der Wunsch, ihn anzuschreien.
»Wenn wir jeden Ladino töten würden, der sich an eine unserer Frauen heranmacht, dann wäre dieses Land fast nur von Indios und Ladino-Frauen besiedelt. Unsere Schwestern und Töchter werden ständig missbraucht und in Bordelle verschleppt. Patrick behandelte Ix Chel wie eine Königin. Warum also sollten wir ihn umbringen?«
Nun wusste Alice eine passende Antwort.
»Männer neigen dazu, Frauen aus ihrer Familie als ihr Eigentum zu betrachten. Wird ihnen dieses Eigentum genommen, so werden sie zornig. Ob die Frau nun freiwillig mitging oder verschleppt wurde, ist dabei unwichtig. Und weil Patrick gutgläubig und offenherzig war, konnte er leichter getötet werden als ein Kaffeebaron, der ständig von bewaffneten Männern umgeben ist.«
Andrés neigte den Kopf zur Seite.
»Ja, da haben Sie recht«, gab er zu. »Doch Palenque ist weit weg von hier. Es scheint mir unwahrscheinlich, dass ein paar Männer aus dem Urwald bis ins Gebirge laufen würden. Sie wussten doch gar nicht, wo sie Patrick finden würden. Ix Chel machte auch nicht den Eindruck, Angst vor ihrer Familie zu haben. Warum sollen es denn ausgerechnet Indios gewesen sein, die Ihren Bruder töteten?«
Die letzte Frage hatte angriffslustig geklungen.
»Weil er nach einem alten indianischen Ritual getötet wurde«, erwiderte Alice.
Andrés verzog das Gesicht.
»Diese Rituale sind nach der spanischen Eroberung allmählich in Vergessenheit geraten. Und das ist bereits viele Jahrhunderte her.«
Alice schüttelte den Kopf.
»Ich habe andere Dinge gehört über den letzten Indianeraufstand vor circa fünfzig Jahren. Grauenhafte Dinge. Wie kann man einen fünfjährigen Jungen bei lebendigem Leib ans Kreuz nageln?«
Andrés fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das rabenschwarz und glatt war. Er hatte kein schönes, aber ein sehr kluges Gesicht, das eindeutig die Züge seines blutrünstigen Volkes aufwies.
»Die meisten meiner Leute haben nur eine sehr vage Ahnung vom christlichen Glauben entsprechend europäischen Vorstellungen, da sie niemals darin unterwiesen wurden. Wir glauben immer noch, dass Gott die ersten Menschen aus Mais erschuf. Wie ihr Bruder mir erzählte, steht dies auch im ›Popol Vuh‹, der Schrift unserer Vorfahren, die nun von hellhäutigen Gelehrten studiert wird. Wir wissen nichts mehr von ihrer Existenz, doch unser Christentum ist eine Vermischung unserer Traditionen und der Geschichten spanischer Priester. Damals, bei dem Aufstand, da dachten wir, die Kreuzigung eines Gottessohnes hätte den Ladinos unüberwindliche Macht geschenkt, und wollten unseren eigenen Heiland haben. Die meisten unserer Aufstände wurden von Medizinmännern und angeblichen Hexen angeführt, daher spielte Magie dabei eine sehr wichtige Rolle. Und deshalb sind sie alle am Ende gescheitert, denn den Aufständischen fehlten sämtliche Kenntnisse der modernen Welt.«
Alice fühlte die braunen Augen auf sich ruhen, ruhig und doch voller Bemühen, sie das Unbegreifliche verstehen zu lassen. Bisher hatte niemand in diesem Land ernsthaft versucht, ihr das Denken der Indios verständlich zu machen. Alice hatte das Gefühl, unbekanntes Gelände zu betreten, das sie gleichzeitig abstieß und faszinierte.
»Aber bedenken Sie, Miss Wegener, es waren nicht wirklich unsere Traditionen, die damals zu dem grausamen Mord an einem kleinen Kind führten, sondern ein missverstandenes Christentum«, beendete er seine Erläuterungen.
Sie schwieg, obwohl ihr einige Erwiderungen einfielen. Erst in mexikanischen Kirchen war ihr das
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