Der Duft des Sommers
Fertiggericht.
Ich muss Sie bitten, mich nach oben zu führen in Ihr Schlafzimmer, Adele, sagte er. Ich nehme an, eine Frau wie Sie hat ein paar Halstücher. Seide ist gut. Seil oder Faden kann in die Haut schneiden.
Die Haustür war nur einen Meter entfernt von mir, und sie stand noch halb offen vom Reinkommen. Gegenüber war das Haus von den Jervis’. Mrs. Jervis rief mir manchmal Bemerkungen über das Wetter zu, wenn ich vorbeiradelte. Daneben wohnten die Farnsworths und die Edwards, die einmal im Herbst vorbeigekommen und meine Mutter gefragt hatten, ob sie nicht mal bald die Blätter im Garten wegmachen wolle, weil sie den Nachbarn auf den Rasen
wehten. Im Dezember hatten die Edwards immer eine so festliche Beleuchtung, dass Besucher aus anderen Städten angefahren kamen, um sie sich anzuschauen. Diese Leute fuhren dann auch an unserem Haus vorbei.
Die Leute geben so viel Geld für diese künstliche Beleuchtung aus, sagte meine Mutter. Haben die noch nie davon gehört, dass man sich auch die Sterne anschauen kann?
Ich hätte jetzt zur Tür hinaus und zu den Nachbarn rennen können. Das Telefon grapschen und eine Nummer wählen. Die von der Polizei. Oder von meinem Vater. Nein, nicht mein Vater: Er würde das als Beweis dafür sehen, dass meine Mutter verrückt war, so wie er es ja immer schon behauptete.
Aber das wollte ich nicht tun. Vielleicht war Frank bewaffnet, vielleicht auch nicht. Anscheinend hatte er jemanden umgebracht. Aber er kam mir nicht vor wie ein Mensch, der meiner Mutter oder mir weh tun würde.
Ich schaute meine Mutter an. Ausnahmsweise sah sie mal richtig gut aus. Ihre Wangen hatten einen rosa Farbton, den ich gar nicht an ihr kannte, und sie blickte Frank in die Augen. Die blau waren.
Ich habe tatsächlich eine ganze Menge Seidentücher, sagte meine Mutter. Die hab ich von meiner Mutter geerbt.
Es geht darum, den Schein zu wahren, sagte Frank ruhig. Ich glaube, Sie verstehen, was ich meine.
Ich stand auf und lief zur Haustür. Machte sie zu, damit niemand reinschauen konnte. Dann setzte ich mich mit untergeschlagenen Beinen auf die Couch im Wohnzimmer und sah zu, wie die beiden die Treppe zum Schlafzimmer
hochstiegen: meine Mutter zuerst, Frank hinter ihr. Sie schienen besonders langsam zu gehen, als müssten sie bei jeder Stufe überlegen. Als gäbe es dort oben noch viel mehr als nur einen Haufen alter Tücher. Als wären sie nicht sicher, was sie in diesem Zimmer erwartete, und sie müssten sich jetzt Zeit lassen, um darüber nachzudenken.
Nach einer Weile kamen sie wieder runter. Frank fragte meine Mutter, welchen Stuhl sie am bequemsten fand. Sie wollte nur nicht nahe beim Fenster sitzen.
An der Art, wie Frank ab und an zusammenzuckte, merkte man, dass er immer noch Schmerzen von der Verletzung hatte, ganz zu schweigen von der Blinddarmwunde. Aber er war imstande, die notwendigen Schritte zu erledigen.
Zuerst wischte er die Sitzfläche des Stuhls ab. Strich vorsichtig über das Holz, als untersuche er es auf etwaige Splitter. Nicht grob, aber mit festem Griff legte er meiner Mutter die Hände auf die Schultern, damit sie sich setzte. Dann blieb er eine Minute reglos stehen, als müsse er etwas überlegen. Sie schaute zu ihm hoch, als ginge es ihr genauso. Wenn sie Angst hatte, merkte man es ihr jedenfalls nicht an.
Dann hockte Frank sich hin, um ihre Füße zu fesseln. Meine Mutter trug diese Art von Schuhen, die aussehen wie Ballettschuhe. Die mochte sie am liebsten. Frank zog sie ihr aus – zuerst einen, dann den anderen, und einen Moment lang hielt er ihren Fuß auf der Hand. Er hatte eine erstaunlich große Hand, aber vielleicht schien es mir auch nur so, weil ihre Füße so zierlich waren.
Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich das sage, Adele, sagte er. Aber Sie haben wunderhübsche Zehen.
Viele Tänzerinnen machen sich die Füße kaputt, sagte meine Mutter. Ich habe einfach Glück gehabt.
Frank nahm zuerst ein pinkfarbenes Tuch mit Rosen vom Tisch, dann ein zweites mit einem geometrischen Muster. Es kam mir vor, als hätte er das zweite an seine Wange gelegt, aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Ich weiß nur, dass die Zeit stillstand oder wenigstens so langsam verstrich, dass ich nicht mehr wusste, wie viele Minuten vergangen waren, als Frank das erste Tuch um das Fußgelenk meiner Mutter band und es zuzog. Er hatte den Stuhl an einer Metallstrebe unter dem Tisch befestigt, auf die man ein Zusatzteil für die Tischplatte legen
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