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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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konnte, wenn man Gäste hatte. Was aber bei uns noch nie nötig gewesen war.
    Frank schien vergessen zu haben, dass ich im Raum war, als er meiner Mutter die Tücher um die Knöchel band und sie an den Stuhlbeinen befestigte.
    Mit einem dritten Tuch fesselte er ihre Hände im Schoß, so dass es aussah, als bete sie. Als säße sie jetzt doch noch in der Kirche.
    Dann schien er sich an mich zu erinnern. Ich möchte nicht, dass dich das beunruhigt, Junge, sagte er. Aber in manchen Situationen muss man so etwas tun.
    Eines noch, sagte er dann zu meiner Mutter. Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Aber wenn Sie zur Toilette müssen. Oder für irgendetwas einen gewissen Freiraum brauchen. Sagen Sie es einfach.

    Ich werd mich einfach zu Ihnen setzen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, sagte er. Nach dem Rechten sehen.
    Einen Moment lang trat wieder dieser Ausdruck auf sein Gesicht, an dem man sehen konnte, dass er Schmerzen hatte.
    Da fragte meine Mutter ihn nach seinem Bein. Sie hielt nicht allzu viel von Medizin, hatte aber eine Flasche Wundbenzin unter der Spüle. Sie sollten keine Infektion kriegen, sagte sie. Vielleicht könnten wir auch eine Schiene für Ihren Knöchel basteln.
    Im Handumdrehen sind Sie wieder ganz der Alte, fügte sie hinzu.
    Und wenn ich gar nicht mehr der Alte sein will?, fragte er. Wenn ich jetzt anders sein möchte?

    Er fütterte sie. Weil die Hände meiner Mutter gefesselt waren, stellte er den Teller vor sich auf den Tisch. Und er hatte recht, was das Chili anging. Es war das beste Chili, das ich je gegessen hatte.
    Wie er das Essen vor ihre Lippen hielt und zusah, wie sie es aß, hatte gar nichts damit zu tun, wie Evelyn Barry fütterte, wenn sie mit ihm hier war. Oder wie Marjorie dem Baby, das sie als meine kleine Schwester bezeichnete, Pfirsichstücke in den Mund löffelte und dabei telefonierte oder Richard wegen irgendetwas anschrie, so dass die Hälfte vom Essen auf Chloes Schlafanzug landete, ohne dass Marjorie es überhaupt bemerkte. Man könnte ja meinen, dass man sich ziemlich gedemütigt fühlt, wenn man von einem anderen
Menschen gefüttert werden muss. Man ist auf jeden Fall gezwungen zu schlucken, auch wenn zu viel auf dem Löffel ist, und wenn zu wenig drauf ist, kann man mit offenem Mund abwarten, bis es mehr gibt. Kein Wunder, wenn jemand dabei so wütend oder verzweifelt wird, dass er vielleicht das Essen auf sein Gegenüber spuckt und lieber hungrig bleibt.
    Aber Frank fütterte meine Mutter auf eine Art und Weise, die beinahe schön aussah. Als sei er ein Juwelier oder ein Wissenschaftler oder einer dieser alten Japaner, die den ganzen Tag an einem einzigen Bonsai arbeiteten.
    Er achtete sorgfältig darauf, dass genau die richtige Menge auf dem Löffel war, damit meine Mutter sich nicht verschluckte oder ihr etwas übers Kinn lief. Offenbar spürte er, dass ihr Aussehen ihr wichtig war, selbst wenn sie gefesselt in ihrer Küche saß und nur von ihrem Sohn und einem entflohenen Häftling gesehen wurde. Wobei der Sohn wohl nicht so wichtig war. Aber der Mann.
    Frank pustete auf das Chili, bevor er es ihr reichte, damit sie sich nicht die Zunge verbrannte. Wenn sie ein paar Löffel gegessen hatte, gab er ihr etwas zu trinken, Wasser oder Wein. Er wechselte beides ab, ohne dass sie etwas sagen musste.
    Im Gegensatz zu unseren üblichen Mahlzeiten herrschte an diesem Abend Stille, während wir aßen. Es war, als bräuchten diese beiden nicht zu sprechen. Sie sahen sich unentwegt an, und obwohl sie schwiegen, merkte man, was sie einander mitteilten. Meine Mutter neigte sich Frank zu wie ein Vogel im Nest, und er saß vorgebeugt auf seinem
Stuhl wie ein Maler vor seiner Staffelei. Ab und an machte er einen Strich mit dem Pinsel. Manchmal lehnte er sich zurück, um das Bild zu betrachten.
    Während des Essens landete ein Tropfen Tomatensoße auf der Wange meiner Mutter. Sie hätte ihn wahrscheinlich selbst ablecken können, hatte aber wohl schon gemerkt, dass das nicht notwendig war. Frank tunkte einen Zipfel seiner Serviette in sein Wasserglas und berührte damit ihre Wange. Auch seine Finger berührten ihre Haut. Meine Mutter reagierte darauf mit einem angedeuteten Nicken, das man leicht hätte übersehen können. Aber eine Haarsträhne hatte seine Hand gestreift, und er hatte sie ihr aus dem Gesicht gestrichen.
    Frank selbst aß nichts. Vorher war ich hungrig gewesen, aber als ich jetzt mit den beiden am Tisch saß, wäre es mir so rüde vorgekommen, zu kauen und zu

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