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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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wir alles in Bio durchgenommen, sagte ich, um sie auszubremsen. Das Thema gar nicht erst aufkommen zu lassen.
    Aber über die Liebe wird dabei nie gesprochen, Henry, fuhr meine Mutter fort. Bei allem Gerede über Körperteile wird das Herz ausgelassen.
    Ist schon okay, sagte ich. Dieses Gespräch musste so schnell wie möglich beendet werden. Aber sie redete unbeirrt weiter.
    Und es gibt da noch einen Punkt, über den die Biolehrer
vermutlich nicht sprechen werden. Obwohl sie die Hormone bestimmt erwähnen.
    Ich wappnete mich innerlich gegen all die fürchterlichen Worte, die jetzt mit Sicherheit kommen würden. Ejakulation. Samen. Erektion. Schambehaarung. Nächtlicher Samenerguss. Masturbieren.
    Das Verlangen, sagte meine Mutter. Nie wird in diesem Zusammenhang über Sehnsucht gesprochen. Die Leute tun so, als ginge es bei der körperlichen Liebe nur um Funktionen und Sekrete und Fortpflanzung. Und sie vergessen dabei die Gefühle.
    Hör auf, hör auf, wollte ich eigentlich sagen. Wollte ihr den Mund zuhalten. Aufspringen und in die Nacht rausrennen. Den Rasen mähen, die Blätter zusammenharken, Schnee schaufeln, irgendwo anders sein, nur nicht hier.
    Es gibt noch eine zweite Art Hunger, sagte sie, räumte unsere Teller ab – sie hatte ihr Essen wie immer kaum angerührt – und goss sich ein Glas Wein ein.
    Hunger nach menschlicher Berührung, sagte sie und seufzte tief. Und wenn man es vorher noch nicht gewusst hatte, jetzt wusste man es: Mit diesem Gefühl kannte sie sich aus.

6
    Manchmal, wenn man aufwacht, hat man für einen Moment vergessen, was am Tag vorher passiert ist. Das Gehirn braucht ein paar Sekunden, um sich daran zu erinnern, was sich ereignet hat – manchmal etwas Gutes, häufiger etwas Schlechtes – und über Nacht vergessen wurde. Ich kannte das Gefühl aus der Zeit, als mein Vater uns verlassen hatte. Wenn ich damals morgens aufwachte und zum Fenster rausschaute, spürte ich, dass etwas nicht stimmte, wusste aber im ersten Moment nicht, was. Es fiel mir dann immer wieder ein.
    Oder als Joe aus seinem Käfig ausbüxte und wir drei Tage lang nicht wussten, wo er war, und überall im Haus Hamsterfutter verteilten, in der Hoffnung, dass er irgendwann rauskommen würde – was er dann auch tat: auch so eine Situation. Und als meine Großmutter starb. Nicht weil sie mir so nahegestanden hätte – ich kannte sie kaum –, sondern weil meine Mutter sie geliebt hatte und ab jetzt Waise war, so dass sie sich noch einsamer fühlen würde und ich noch mehr darauf achten musste, mit ihr zu Abend zu essen, Karten zu spielen und mir ihre Geschichten und alles andere anzuhören: Auch das war so eine Situation.
    An dem Morgen, nachdem wir Frank aus dem Pricemart
mit zu uns nach Hause genommen hatten, an diesem Freitag vor dem Labor-Day-Wochenende, wachte ich auf, ohne mich daran zu erinnern, dass er hier war. Ich wusste nur, dass sich irgendetwas im Haus verändert hatte.
    Die Erinnerung kam, als ich den Kaffeegeruch bemerkte. Das sah meiner Mutter nicht ähnlich. Sie stand niemals so früh auf. Und im Radio lief klassische Musik.
    Irgendwas war im Ofen. Brötchen, wie sich dann herausstellte.
    Es dauerte ein paar Sekunden, dann war alles klar. Und im Gegensatz zu anderen Situationen wie diesen fühlte sich die Erinnerung nicht schlecht an. Die Seidentücher fielen mir wieder ein und die Moderatorin im Fernsehen, die das Wort Mörder ausgesprochen hatte. Doch ich empfand keine Angst, wenn ich an Frank dachte. Eher so etwas wie Aufregung und Vorfreude. Es war, als hätte ich ein Buch weglegen müssen, weil ich zu müde geworden war, oder hätte ein Video angehalten. Ich wollte erfahren, wie die Geschichte weiterging und was mit den Figuren passierte – nur dass in diesem Fall wir selbst die Figuren waren.
    Als ich die Treppe runterging, überlegte ich, ob meine Mutter womöglich an derselben Stelle saß wie gestern Abend, mit ihren eigenen Seidentüchern an den Stuhl gefesselt. Doch sie war verschwunden, und am Herd stand Frank. Er hatte sich anscheinend eine Schiene für seinen Knöchel gebastelt. Das Hinken war noch da, aber er konnte sich besser bewegen.
    Ich wäre ja rausgegangen und hätte Eier gekauft, sagte er, aber im Supermarkt rumzulaufen ist im Moment keine
so tolle Idee. Er wies mit dem Kopf auf die Zeitung, die er wohl von der Schwelle aufgehoben hatte, wo sie noch vor Sonnenaufgang immer hingelegt wurde. Neben einer Schlagzeile über die extreme Hitze, die es am Wochenende geben sollte,

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