Der Duft des Sommers
vielleicht vom Tanzen, vielleicht aber auch vom Leben. Sie trank Wein, aber als ich reinkam, stellte sie ihr Glas ab.
Komm her, Henry. Ich möchte mit dir reden.
Ich fragte mich, ob sie meine Gedanken lesen konnte. Wir waren so lange nur zu zweit gewesen, vielleicht war sie mir so nah, dass sie meinen Plan erraten hatte. Vielleicht wusste sie, dass ich mit Eleanor über den Anruf bei der Polizei geredet hatte. Dann konnte ich leugnen, so viel ich wollte, meine Mutter würde die Wahrheit spüren.
Einen Moment lang sah ich vor mir, was dann passieren
würde. Frank würde mich fesseln. Nicht mit Seidentüchern, sondern mit einem Seil oder Klebeband oder mit beidem. Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass meine Mutter das zulassen würde, aber Eleanor hatte gesagt, durch Sex verändere sich alles. Man musste sich ja nur mal Patty Hearst anschauen, die Banken ausgeraubt hatte, obwohl sie von Haus aus reich war. Oder diese Hippie-Frauen, die sich auf Charles Manson eingelassen hatten und plötzlich Schweine metzelten und Menschen töteten. Die waren nur wegen des Sex’ so durchgedreht.
Frank hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will, sagte meine Mutter.
Ich weiß, das ist eine sehr spezielle Situation, fuhr sie fort. Es gibt ein paar Probleme dabei. Aber wir wissen ja nun, dass das Leben kompliziert ist.
Du kennst mich noch nicht lange, Henry, sagte Frank jetzt. Ich könnte es dir nicht übelnehmen, wenn du auf falsche Gedanken kämst.
Nachdem dein Vater mich verlassen hat, sagte meine Mutter zu mir, habe ich geglaubt, dass ich für immer alleine bleiben würde. Ich dachte nicht, dass es noch mal jemanden geben würde, der mir wichtig ist. Außer dir. Und ich hätte auch nicht gedacht, dass ich jemals wieder so etwas wie Zuversicht empfinden könnte.
Ich würde mich nie zwischen dich und deine Mutter drängen, sagte Frank. Aber ich könnte mir vorstellen, dass wir eine Familie werden.
Ich hätte gerne gefragt, wie sie sich das wohl vorstellten, wenn sie auf Prince Edward Island hockten und ich jeden
Abend mit meinem Vater und Marjorie und ihrer kostbaren Fracht, die nur in einem weißen Auto transportiert werden durfte, am Tisch sitzen würde? Ich hätte gerne gesagt, Du solltest dir vielleicht lieber mal überlegen, was mit der letzten Familie von diesem Typen passiert ist, Mom. Ich finde, da hat er nicht so toll abgeschnitten.
Aber obwohl ich wütend war und auch Angst hatte, spürte ich dennoch, dass das ungerecht gewesen wäre. Frank war kein Mörder. Ich wollte nur nicht, dass er mir meine Mutter wegnahm und mich hier zurückließ.
Wir müssen weg von hier, sagte meine Mutter. Uns ein neues Leben aufbauen. Unter anderem Namen leben.
Er und sie, in anderen Worten. Die beiden würden abhauen.
Tatsächlich hatte ich von einer solchen Flucht schon selbst geträumt. Wenn ich wieder an dem Sibirien-Tisch in der Schul-Cafeteria saß, hatte ich mir manchmal überlegt, ob die NASA nicht Freiwillige bräuchte, um sie auf einem anderen Planeten anzusiedeln, oder ob wir zum Peace Corps gehen oder Mutter Teresa in Indien helfen sollten oder ob wir vom Zeugenschutzprogramm per Operation ein neues Gesicht und eine neue Identität bekommen könnten. Meinem Vater würden die dann erzählen, dass wir auf tragische Weise bei einem Brand ums Leben gekommen waren. Er würde traurig sein, aber darüber hinwegkommen. Marjorie wäre froh. Keine Unterhaltszahlungen mehr.
Wir dachten, Kanada wäre gut, sagte meine Mutter. Da wird Englisch gesprochen, und wir könnten die Grenze ohne Ausweis passieren. Ich hab ein bisschen Geld. Frank
eigentlich auch, vom Erbe seiner Großmutter, aber da kommen wir nicht ran, weil man ihn finden würde, wenn er versuchen würde, es abzuheben.
Ich hatte die ganze Zeit kein Wort von mir gegeben, sondern auf die Hände meiner Mutter gestarrt. Ich dachte daran, wie sie mir immer durch die Haare gewuschelt hatte, wenn wir zusammen auf der Couch saßen. Das schien sie jetzt auch machen zu wollen, aber ich schob ihre Hand weg.
Prima, sagte ich. Viel Spaß. Man sieht sich. Irgendwann in der Zukunft, wie?
Was redest du da?, sagte sie. Wir gehen natürlich alle zusammen, du Dummerchen. Wie könnte ich denn ohne dich leben?
Ich hatte mich komplett getäuscht. So wie es aussah, würden wir uns alle drei zusammen in dieses große Abenteuer stürzen. Eleanor hatte mir idiotisches Zeug eingeredet. Und ich hätte es besser wissen müssen.
Es sei denn, es handelte sich um einen Trick. Den meine
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