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Der Duft von Hibiskus

Der Duft von Hibiskus

Titel: Der Duft von Hibiskus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
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Anblick eines übellaunigen Mannes so erleichtert gefühlt.

9
    D ezember 1858
    D ass ich einmal in einem Baum sitzen und dort zeichnen würde, hätte ich mir niemals träumen lassen, dachte Emma und musste schmunzeln.
    Gut geschützt vor der Mittagssonne saß sie in einem hohlen Eukalyptusbaum, der sie von drei Seiten umschloss wie ein hölzernes Schlupfloch. Die vierte, offene Seite bildete den halbrunden Eingang und bot einen freien Blick auf den Lagerplatz. Die Höhlung war so groß, dass Emma aufstehen und einige Schritte umhergehen konnte. Sie spielte schon mit dem Gedanken, ihr Zelt abzubrechen und ganz in die Baumhöhle zu ziehen, so gut gefiel ihr dieser Platz.
    Zunächst aber hieß es zeichnen. Alle Forscher waren im Busch unterwegs, und obwohl Scheerer in den ersten Tagen gezögert hatte, sie allein im Lager zu lassen, hatte Emma ihn überzeugen können, dass es ihr wirklich nichts ausmachte.
    Sie arbeitete seit mehreren Stunden und hatte schon etliche Skizzen vor sich liegen: Gräser, Blätter, fremdartige Blüten. Mit toten Tieren hatte Oskar sie heute noch nicht behelligt, aber das würde gewiss nicht ausbleiben. Unermüdlich war er unterwegs, um Material für Godeffroy zu sammeln, und ebenso unermüdlich brachte Emma zu Papier, was Oskar ihr hinlegte.
    »Du bist dir deiner Verantwortung bewusst, meine Liebe?«, hatte Oskar sich vergewissert, als er ihr das erste Blütenbüschel überreicht hatte. »Ich konserviere alles, was ich finde, aber bei aller Sorgfalt wird manch ein Fund den Weg nach Deutschland nicht überstehen. Es ist also wichtig, dass du absolut akkurat zeichnest! Alles – jedes Staubblatt, jeder Fruchtknoten – muss genau abgebildet werden, damit Godeffroy unsere Funde auch verwerten kann. Ach ja, die Farbanmerkungen schreibst du auf die Rückseite der Skizzen. Alles klar?«
    »Selbstverständlich«, hatte Emma gesagt und ihrem Vater im Stillen für die gründliche Ausbildung gedankt, die er ihr hatte angedeihen lassen.
    Mein lieber, guter Vater, der mich nun hasst …, war es ihr durch den Kopf gegangen.
    Emma betrachtete kritisch die Frucht, die sie eben fertig gezeichnet hatte. Sie war hart und holzartig, fast wie eine Nuss, und stark segmentiert. Kam das auf der Zeichnung zum Ausdruck? Ja, sie war recht gut geworden, nur die Farbanmerkungen fehlten noch. Gerade wollte Emma das Blatt umdrehen, als sie am Eingang ihrer Höhle eine Bewegung wahrnahm.
    Schon wieder Oskar?
    Emma hob den Kopf und starrte in ein braunes Gesicht, umrahmt von einem dunkelgrauen Bart und zotteligen Haaren.
    Erschrocken sprang sie auf.
    Ein Wilder, dachte sie panisch, direkt vor mir, und keiner der Forscher ist hier! Er wird mich verschleppen, er wird mich umbringen, oh Jesus …
    Sie wollte schreien, doch es kam kein Ton aus ihrer Kehle.
    Die Lippen in dem braunen Gesicht verzogen sich zu einem Lächeln, und der Mann trat einen Schritt zurück. Emma starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an.
    Er rührte sich nicht.
    Ganz langsam ebbte ihre Panik ab.
    Wollte er ihr zu verstehen geben, dass er keine feindlichen Absichten hegte? Sie trat ebenfalls einen Schritt zurück und presste ihren Rücken gegen die Höhlenwand.
    Der Mann musste schon älter sein, denn sein Gesicht war von Runzeln und tiefen Falten durchzogen. Er trug lediglich eine Art Lendenschurz, in der Hand hielt er einen langen Speer. Er lächelte immer noch und stieß dazu seltsame Laute aus, von denen Emma nicht einmal ahnte, was sie bedeuten mochten; bedrohlich, fand sie, klangen sie aber nicht.
    Er deutete mit der freien Hand abwechselnd auf ihr kleines Spitzmesser am Boden und auf seinen Speer. Dann legte er den Speer auf den Boden. Offensichtlich wollte er ihr einen Handel anbieten: seinen Speer gegen ihr Messer.
    Kurz entschlossen bückte sie sich und hob das Messer auf. Sie hielt es ihm hin, um ihre Zustimmung zu dem Handel kundzutun, und er wollte gerade mit einem breiten Lächeln nach dem Messer greifen, als hinter ihm lautes Geschrei ertönte.
    Der Alte fuhr herum. Emma erkannte die erbosten Stimmen von Oskar und Pagel. Ein Gewehrschuss zerriss die Luft, der Wilde warf die Arme in die Höhe, schrie auf und verschwand wie der Blitz im Busch, während die Forscher angerannt kamen und ihm wüste Drohungen nachriefen.
    Schwer atmend trat Oskar zu Emma, nahm ihr Gesicht in beide Hände und fragte rau: »Hat der Kerl dir was angetan?«
    Seine Augen funkelten vor Zorn.
    Rasch befreite sich Emma aus Oskars Griff.
    »Nein, nein«, sagte sie, »er

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