Der Duft von Tee
frage mich, ob sie es überhaupt merkt. Ich sehe auf meine Teetasse hinunter. Sie ist zart und wunderschön, mit schweren Reben von violetten Trauben, die so gemalt sind, als würden sie vom Rand der Tasse herunterhängen. Die Untertasse hat ein gewagtes malvenfarbenes Schottenkaromuster. Das ist mein Lieblingsset. Ich muss an Mama denken, daran, wie ich ihr Tee hole und ihren Teller wegräume, so wie Rilla es jetzt für mich macht. Wie sie mich angrinst und »Oh, danke, Liebes« murmelt, als hätte ich wer weiß was für sie getan.
Ich habe keine so große Familie wie Rilla. Ob es ihr ein gutes Gefühl gibt, ob es sie ausfüllt, zu einem so weit verzweigten Netzwerk zu gehören? So etwas wie Erfüllung? Unsere Familie war ein so kleiner, enger Kreis. Zwei waren genug, manchmal schon zu viel. Ich seufze, und mein Kopf ist von dem Trommelschlag eines einzigen Wortes erfüllt: Mama, Mama, Mama …
Als ich Tasse und Untertasse in die Küche trage, poliert Rilla emsig das Besteck. Sie singt, wobei ihr die Noten immer wieder zu einer falschen Melodie entgleiten. Ich hätte ja gedacht, dass sie gut singen kann, dass ihre Stimme hell und sanft wie die eines Vogels ist, weil sie sonst auch alles so gut kann. Doch ihr Gesang ist ehrlich gesagt grauenhaft. Sie reißt mich aus meinen Grübeleien und bringt mich zum Lachen. Als sie aufblickt und meinen Gesichtsausdruck sieht, singt sie noch lauter, und ich stimme kichernd mit ein. Unsere Stimmen klagen wie zwei balzende, schwermütige Wölfe, die den Mond anheulen.
Das Klingeln der Tür unterbricht uns. Wir verlassen beide die Küche, als Gigi in das Café gestürzt kommt. Sie schiebt sich den Pony aus den Augen und schaut Rilla und mich skeptisch an. Vorsichtig tritt sie einen Schritt zurück, sieht sich im Café um und hebt das Kinn, um einen Blick in die Küche zu werfen.
»Hallo«, sage ich.
Ihre Hände sind zu kleinen, nervösen Fäusten geballt.
»Kaffee?«, frage ich.
Sie dreht sich um, mustert mich erneut. Die glitzernden kleinen Pailletten auf ihrem Sweatshirt sind zu Buchstaben angeordnet, die ich nicht entziffern kann.
»Ich suche meine Großmutter.«
»Yok Lan?«, fragt Rilla.
Ich werfe ihr einen verwunderten Blick zu. »Yok Lan ist Ihre Großmutter?«, frage ich ungläubig. Man könnte sich keine zwei unterschiedlicheren Charaktere vorstellen. So verschieden können zwei Generationen sein.
Rilla nickt und flüstert mir zu: »Ich glaube schon. Sie spricht manchmal mit ihr.«
Ich bin beeindruckt, wie aufmerksam Rilla ist.
»Sie war vorhin hier, aber sie ist wieder gegangen«, sage ich zu Gigi.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt Rilla ruhig von der anderen Seite des Tisches aus. In ihrer Stimme liegt Anteilnahme.
»Wir müssen sie finden, bevor sie die Nachrichten hört. Es ist keinem von unseren Bekannten etwas passiert, aber ich habe Angst, dass sie einen Anfall bekommt oder so. Sie ist schon ziemlich alt.« Gigi zuckt mit den Schultern. »Egal, ich glaube, ich weiß, wo sie ist. Heute ist ihr Mah-Jongg-Tag. Sie wird bei Mei sein.«
So viel hat sie seit Wochen nicht mit mir geredet. Ich muss kurz nachdenken, bevor ich nachfrage. »Sorry, aber was für Nachrichten?«
» Die Nachrichten«, sagt sie. Doch als sie merkt, dass wir nicht die geringste Ahnung haben, fügt sie hinzu, »Das Erdbeben in Sichuan, wissen Sie? Sie haben es gar nicht gespürt?«
»Ein Erdbeben?«
»Das war alles im Fernsehen. Sie sollten hier einen Fernseher aufstellen.«
In den meisten Restaurants in Macao hängen Fernseher in den Ecken. Es überrascht mich immer wieder, dass die Leute hier selbst dann fernsehen, wenn sie zum Essen ausgehen. Sie scheinen ihr Gegenüber total zu ignorieren und starren ausdruckslos auf den Bildschirm. Ich weiß, dass das ein Kulturunterschied ist, aber ich werde ihn nie verstehen und weigere mich deshalb standhaft, einen Fernseher im Lillian’s aufzuhängen.
Gigi starrt uns mit ihren dunklen Augen an. »Es war ziemlich heftig.«
Rilla und ich sehen uns an. Ein Erdbeben, denke ich immer wieder.
»Ich muss los«, sagt sie abschließend.
Als sie die Hand schon auf der Klinke hat, hält sie eine Sekunde inne und senkt den Kopf, als wäre ihr noch etwas eingefallen. Sie kommt zurück zur Theke, greift nach einer Serviette und einem Stift und schreibt ihren Namen und ihre Nummer auf. »Wenn Sie meine Großmutter jemals allein oder traurig oder was auch immer sehen … Wissen Sie, Ma ist nicht zu gebrauchen, deshalb ist es am besten, wenn Sie im
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