Der Duft von Tee

Notfall mich anrufen. Ich versuche immer, ein Auge auf sie zu haben … Egal, Sie wissen schon, sie ist alt …«, sagt sie erneut. Ihre Stimme ist ruhig, und obwohl sie versucht, lässig zu klingen, schwingt eine gewisse Besorgnis mit.
    Ich nehme die Serviette und nicke. »Ja, natürlich. Das mache ich.«
    Sie schenkt mir ein ganz kleines höfliches Lächeln und verschwindet.
    Rilla und ich stehen einen Moment wie vom Donner gerührt da. Wortlos holen wir unsere Taschen. Jetzt ist nicht der Augenblick, um Besteck zu polieren; wir müssen abschließen und nach Hause gehen. Und sehen, was passiert ist.
    Liebste Mama,
    Sichuan-Pfeffer ist ein Bestandteil des chinesischen Fünf-Gewürze-Pulvers. Die fünf Gewürze stehen für die fünf Geschmacksrichtungen der chinesischen Küche – süß, sauer, bitter, pikant und salzig. Wusstest du das? Es kommt mir so vor, als hättest du das wissen können, um es mir vor dem Einschlafen zuzuflüstern. Ich hatte immer gedacht, Sichuan-Pfefferkörner wären hellrosa, doch wie ich inzwischen weiß, ist das eine andere Sorte. Sichuan-Pfefferkörner sind rotbraun. Heute ist ein bitterer Tag. Alles andere als süß. Eher sauer. Die Art von Tag, die einem den Appetit verdirbt, die die Kehle vor zurückgehaltenen Tränen schmerzen lässt.
    Als Pete nach Hause gekommen ist, hat er sich auf die Couch neben mich gesetzt, und wir haben uns eine ganze Stunde lang die Nachrichten angesehen, ohne uns zu rühren oder zu reden. Er hat weder seine Krawatte noch seinen Gürtel oder seine Schuhe ausgezogen. Wir haben einfach dagesessen und geguckt und auf weitere Bilder und Informationen gewartet. Sie haben gesagt, dass dem Erdbeben möglicherweise bis zu 40.000 Menschen zum Opfer gefallen sind, doch jedes Mal, wenn der Reporter erneut mit dünnen Lippen und aschfahlem Gesicht auf dem Bildschirm erschien, schien die Zahl noch weiter gestiegen zu sein. Später habe ich Bohnen auf Toast gemacht, und Pete hat sich Shorts und ein T-Shirt angezogen, und dann haben wir weiter ferngesehen, bis uns die Augen brannten. Es war immer derselbe Film – unnatürlich leise und graue Straßen, eingestürzte Gebäude, als wären sie aus Bauklötzen. Der Staub dick wie Schnee; nur noch ein paar Menschen sind übrig, die dazwischen herumlaufen, fassungslos, ziellos.
    Es wird jetzt warm in Macao, trotzdem habe ich ein Bad genommen, bevor ich ins Bett gegangen bin. Ich konnte nicht aufhören, an all den Schmutz und das Chaos zu denken, an die Männer und Frauen, die hustend und weinend und mit gebrochenem Herzen durch die Straßen laufen. Die Schulen voller Kindern – zermalmt. Ich hatte das Gefühl, als würde mir das Herz brechen. Pete hat schon geschlafen, als ich aus dem Bad kam. Ich habe mir einen Schlafanzug angezogen und bin ins Bett gekrochen, die Spitzen meiner Haare waren noch nass und haben feuchte Flecken auf dem Kissen hinterlassen.
    Deine dich liebende Tochter
    Grace
    Am Tag nach dem Erdbeben ist das Lillian’s zum Berstenvoll. Es ist so viel los, dass sich diejenigen, die keinen eigenen Tisch mehr bekommen, zu Fremden setzen und mit ihnen ins Gespräch kommen. Als hätte das Erdbeben die soziale Seite der Leute herausgekehrt. Die Unterhaltungen sind gedämpft, und die Gäste sitzen lange über ihrem Kaffee. Die Kinder werden in die Ecke mit dem Spielzeugkorb geschickt und bauen stumm Schlösser oder Schiffe aus Lego; selbst sie scheinen ein Bedürfnis nach Neugestaltung und Wiederaufbau zu haben. Rilla und ich arbeiten schnell, versuchen, mit dem Ansturm fertigzuwerden und doch eine Aura der Ruhe zu bewahren. Alle haben großes Verständnis, selbst wenn Bestellungen vertauscht werden oder sich verzögern. Rilla hat eine Spendenbüchse vom Roten Kreuz mitgebracht, die wir auf die Theke vor das Glas mit den Biscotti gestellt haben. Den ganzen Tag fallen Münzen hinein wie Regentropfen auf ein Blechdach. Am späten Nachmittag sind wir beide völlig erschöpft. Ich trage zwei Stühle in die Küche und fordere Rilla auf, mir Gesellschaft zu leisten.
    »Wir brauchen eine Pause. Hast du keinen Hunger?«, flüstere ich.
    Sie nickt dankbar und hält zwei Schokoladenmuffins aus der Vitrine hoch. Es sind die beiden letzten, und obwohl sie bei den zahlenden Gästen sehr beliebt sind, nicke ich schnell; wir müssen uns stärken. Wir sitzen schweigend da, essen schnell und spülen die dunklen Brocken mit kalter Milch hinunter. Wir müssen wie Teenager aussehen, die gerade aus der Schule nach Hause gekommen sind, ein