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Der Duft von Tee

Der Duft von Tee

Titel: Der Duft von Tee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Tunnicliffe
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gestrickten Pullover hängt. Aus einem mütterlichen Instinkt heraus beuge ich mich vor und will es abzupfen, doch sie dreht sich zu schnell um. Rilla steht neben mir, und wir sehen beide zu, wie Gigi das Café verlässt. Langsam trocknet Rilla eine Tasse ab, zieht das Geschirrtuch durch den gebogenen Henkel. Auch nachdem Gigi die Stra ße hinuntergegangen und nicht mehr zu sehen ist, starrt Rilla weiter aus dem Fenster.
    »Das ist eine gute Idee, das mit dem Muffin«, sagt sie vorsichtig.
    Ich nicke. Widerwillig, wie ich mir eingestehen muss.
    Am nächsten Tag hocken Rilla und ich vor dem Ofen und spähen durch die Glasscheibe. Marjory ist zu einem so guten Stammgast geworden, dass sie im Eingang zur Küche stehen und uns zusehen darf, wenn sie ihren Morgenkaffee nippt. Sie trägt eine Seidenbluse, Shorts und Sandalen. Rilla streicht sich das Haar aus dem Gesicht, und ich sehe, dass sie auf ihrer Lippe herumkaut. Im Ofen gehen die Macarons langsam auf und werden hart.
    Ich frage Rilla, was sie denkt.
    »Ich weiß nicht«, murmelt sie. »Es scheint zu funktionieren.« Sie wirft mir einen verstohlenen Blick zu.
    »Ich finde, sie sehen sehr gut aus«, sagt Marjory über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg. Das Blech ist mit den oberen Schalen derMacaronsbedeckt, weiß mit zwei himbeerfarbenen Streifen, die ein Kreuz bilden. Rilla hat vorgeschlagen, Gigis Einfall an einem Macaronauszuprobieren.
    »Die Idee ist wirklich großartig«, sage ich und berühre ihre Schulter.
    »Nun, es war eigentlich Gigi, die …«, beginnt Rilla. Doch plötzlich kreischt sie, richtet sich auf und hält sich die Hand vor den Mund, was mich aufspringen und herumfahren lässt, wobei ich mir die Hand auf die Brust drücke.
    »Scheiße!«, schreit Marjory lachend. Kaffee spritzt auf ihre Sandalen.
    »Yok Lan!«, kichert Rilla, die einen Lachkrampf bekommen hat. Keine von uns hat das Klimpern der Türklingel gehört.
    Yok Lan steht arglos neben Marjory, blickt durch das Ofenfenster und schiebt ihre Brille die Nase hoch. Sie kneift die Augen zusammen, ihr Haar liegt auf einer Seite, als wäre sie gerade erst wach geworden. Sie schaut überrascht, als wir kichern, stimmt jedoch bald mit ein und blickt von Rilla zu mir und wieder zurück – ratlos, was das Ganze zu bedeuten hat. Seit dem Erdbeben hat sie uns nicht mehr besucht. Sie sieht aus wie immer mit einem heiteren Lächeln auf ihrem freundlichen, runden, nussfarbenen Gesicht. Ich muss bei ihrem Anblick einfach grinsen.
    »Grundgütiger, du hast mich ja zu Tode erschreckt!«, quietscht Marjory.
    Rilla schlingt den Arm um Yok Lan. Mir fällt auf, dass sie ungefähr gleich groß sind. Sie nähert sich mit ihrem jungen, dunklen Kopf dem der alten Frau, und Yok Lan lehnt sich an sie. Sie tätschelt Rillas Hand, die auf ihrem dünnen Arm liegt, und Rilla begleitet sie zu einem Stuhl und sagt ihr, dass sie ihr eine Tasse Tee macht. Marjory geht lächelnd auf die Toilette, um ihre Sandalen abzuwischen.
    Ich bleibe in der Küche, den Blick auf die Macarons gerichtet, und denke über einen guten Namen nach. Ich habe bereits entschieden, dass wir 50% des Verdienstes dem chinesischen Roten Kreuz spenden werden, obwohl Pete mir jetzt sicher sagen würde, dass ich überhaupt keinen Geschäftssinn habe. Ich glaube, ich werde ihm nichts davon erzählen, dann müssen wir uns auch nicht darüber streiten. Jeden Abend suchen mich die Bilder von den Nachwirkungen des Erdbebens heim. Gesichter, die mich an Yok Lan erinnern. Oder an Gigi. Kinder laufen verloren ohne ihre Eltern herum, Eltern ohne ihre Kinder, ich sehe tiefe, grausame Wunden und großen Kummer. Wenn die Tageszeitungen ausgeliefert werden, fleht mich Rilla mit einem düsteren Blick an, nicht die Bilder anzusehen. Ich trete aus der Hitze des Ofens, setze mich neben das Spülbecken und arbeite mich durch ein altes Französischwörterbuch mit abgegriffenem Einband. In meinem Kopf spulen Worte ab – Beistand, Hilfe, Unterstützung. Aide, appui, soulagement. Plötzlich schwebt das Wort cœur durch meinen Kopf wie ein Luftballon. Cœur curatif. Heilendes Herz. Ich frage mich, ob das Französisch korrekt ist und mache mir im Geiste eine Notiz, Léon anzurufen und ihn zu fragen. Cœur curatif.
    Einige Tage später, als die Cœur curatif- Macarons komplett ausverkauft sind, steht eine kleine Frau mit dunklen Haaren vor dem Café, doch ich bin mit den Gedanken ganz bei Léons Bestellung. Er ist gestern vorbeigekommen, und die neuen Macarons samt der

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