Der Duft
gekommen.«
»Was ist los? Wo bist du?«
»Ich muss noch was erledigen. Mach dir keine Sorgen, es geht mir gut. Ich melde mich wieder.«
»Marie, bitte …«
Sie legte auf. Ihr Vater kannte sie gut genug, um aufgrund dieses kurzen Gesprächs zu wissen, dass sie in Schwierigkeiten
steckte. Er würde sich schreckliche Sorgen machen. Aber das konnte sie nicht ändern. Sie versuchte es noch einmal in Rafaels
Wohnung, doch wieder meldete sich nur der Anrufbeantworter. Beunruhigt schaltete sie das Handy aus, kaufte sich einen Salat
und ein Sandwich und kehrte zurück in ihr Hotel.
In den Nachrichten liefen Berichte über eine Annäherung zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten. Zwar gab es immer noch
Proteste und Selbstmordanschläge, aber es war deutlich spürbar, wie sehr die politischen Führer im Nahen Osten neuerdings
entschlossen waren, den Konflikt ein für alle Mal zu beenden. Präsident Zingers diplomatische Initiative, die in der Friedenskonferenz
von Riad gegipfelt habe, sei ein großer, ja vermutlich ein historischer Erfolg, meinte ein Kommentator.
Marie schaltete den Fernseher aus. Irgendwer da draußen kannte das Geheimnis des Pheromons. Und wenn er es einsetzte, dann
sicher nicht, um den Weltfrieden zu bewahren. Sie dachte an die irakischen Schulkinder. Wer zu so etwas fähig war …
Sie schlief erneut unruhig. Am nächsten Morgen brauchte sie einige Sekunden, um zu begreifen, wo sie war. Sie erschrak. Die
Bedrohung, die gestern noch so real gewesen war, erschien ihr plötzlich unwirklich. Waren die Spuren am |385| Klavierdeckel wirklich so eindeutig gewesen? Sie konnte es nicht mehr sicher sagen.
Frau Hettwig fiel ihr ein, ihre Nachbarin eine Etage tiefer. Da Marie häufig unterwegs war, hatte sie ihr einen Wohnungsschlüssel
gegeben, für den Fall, dass mal ein Installateur in die Wohnung musste oder Marie ihren eigenen Schlüssel verlor. Außerdem
hatte sie in Maries Abwesenheit hin und wieder die Topfpflanzen gegossen. Das musste die Erklärung sein. Vielleicht hatte
Frau Hettwig irgendwie das Instrument berührt oder einfach ein wenig darauf herumgeklimpert.
Das ließ sich leicht herausfinden. Es war Viertel vor acht, die alte Dame war sicher schon auf. Die Nummer kannte Marie auswendig
– sie hatte ein exzellentes Zahlengedächtnis und vergaß eine Telefonnummer, die sie einmal gewählt hatte, nicht wieder. Um
die Möglichkeit einer Ortung ihres Handys kümmerte sie sich nicht mehr.
»Hettwig?«
»Guten Morgen, Frau Hettwig. Hier ist Marie Escher. Bitte entschuldigen Sie die frühe Störung …«
»Frau Escher! Mir war doch, als hätte ich da gestern etwas gehört. Waren Sie im Urlaub?«
Marie zögerte einen Moment. »Ja, so ähnlich. Frau Escher, waren Sie in den letzten Tagen in meiner Wohnung?«
Die alte Dame schien von Maries Tonfall etwas erschrocken. »Sie hatten mir doch gesagt, ich solle mich um die Pflanzen kümmern.«
»Natürlich. Ich wollte nur sicher gehen.«
»Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Als ich letzten Donnerstag nachgesehen habe …«
»Nein, nein, es ist alles okay. Ich habe nur eine Frage: Waren Sie an meinem Flügel?«
Hettwig zögerte. »Wie … kommen Sie darauf?«
|386| »Frau Hettwig, es ist sehr wichtig für mich. Haben Sie den Tastaturdeckel aufgeklappt?«
»Entschuldigen Sie bitte, Frau Escher. Herbert, mein Mann, der konnte sehr gut spielen. Ich habe es früher auch mal versucht,
ich hatte als Kind zwei Jahre Unterricht, aber ich habe wohl kein großes Talent, und Herbert, der hat immer über mich gelacht.
Da hab ich mich dann nicht mehr getraut. Aber ich habe Ihr schönes Instrument immer bewundert. Und dann, neulich … Es tut
mir leid, wirklich …«
Erleichterung durchflutete Marie, doch gleichzeitig drängte neues Entsetzen in ihren Verstand wie Eiswasser nach einer warmen
Dusche. Sie riss sich zusammen. »Nein, nein, so meinte ich das nicht. Sie dürfen jederzeit auf dem Flügel spielen.«
»Wirklich? Das … das ist sehr großzügig …«
»Vielen Dank, Frau Hettwig. Auf Wiedersehen.«
»Frau Escher, ist wirklich alles in Ordnung? Sie klingen etwas … aufgeregt …«
»Nein, nein, alles ist gut, wirklich. Auf Wiedersehen, Frau Hettwig.«
»Auf Wiedersehen, Frau Escher.«
Marie barg das Gesicht in den Händen. Nichts war in Ordnung. Gar nichts. Sie war ganz offensichtlich dabei, durchzudrehen.
Ihre grundlose Flucht gestern war der klare Beweis, dass die Ereignisse in Afrika sie völlig aus der Bahn
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