Der Duft
der Saison mehrmals pro Woche Besuch von Touristen
bekamen.
Sie sah die Touristen mit gemischten Gefühlen. Fast täglich durchquerten sie in kleinen Gruppen die Station, fotografierten
sich gegenseitig neben Dian Fosseys Grab und starrten Joan manchmal an, als hielten sie sie ebenfalls für eines der letzten
Exemplare einer aussterbenden Spezies. Trotz aller Ermahnungen waren sie oft viel zu laut, ließen ihren Unrat im Lager herumliegen
und trampelten durch den Urwald wie eine Horde Elefanten. Andererseits war der Gorilla-Tourismus eine der wichtigsten Devisenquellen
Ruandas und hatte der Gegend um den »Parc National des Volcans« relativen Reichtum beschert. Dadurch war das Problem der Wilderei,
gegen das Dian Fossey so unermüdlich gekämpft hatte, stark zurückgegangen, und der |13| Gorillabestand hatte sich in den letzten zwei Jahrzehnten wieder leicht erholt. Es war Monate her, dass Joan eine Fangschlinge
hatte entfernen müssen. Es schien, als hätten seltene Lebewesen nur dann noch eine Überlebenschance, wenn sie den Menschen
als Urlaubsattraktion dienten.
Der Schrei, den sie vorhin zu hören geglaubt hatte, drängte sich in ihre Gedanken und verursachte ein ungutes Gefühl in ihrem
Magen. Albern eigentlich – sicher war es nur ein Rest des wirren Traums gewesen. Doch sie würde keine Ruhe finden, bis sie
sich davon überzeugte, dass der Silberrücken Cato und seine Gruppe wohlauf waren. Sie beschloss, einen kurzen Abstecher zu
den Hängen des Karisimbi zu machen und nach dem Rechten zu sehen, bevor sie sich auf die Suche nach Gruppe 8 machte.
Sie ging zügig, aber nicht hastig. Auch wenn sie dem schmalen Pfad zum Karisimbi schon hundert Mal gefolgt war, wusste sie,
wie gefährlich Eile sein konnte. Einerseits gab es mehrere steil abfallende Stellen, und schon ein einziger Fehltritt auf
dem von der Feuchtigkeit schlüpfrigen Grund konnte einen Absturz mit Knochenbrüchen zur Folge haben. Andererseits bestand
immer die Gefahr, unversehens mit einem der Büffel zusammenzustoßen, die morgens oft reglos im Unterholz standen. Jahr für
Jahr kamen mehr Menschen durch Zusammenstöße mit den leicht reizbaren und enorm starken Tieren um, als durch Angriffe von
Löwen oder anderen Großkatzen. Hier im Hochwald, wo es sonst nur scheue Bergleoparden gab, waren sie die mit Abstand gefährlichsten
Lebewesen. Joans Pistole würde sie vor einem wütenden Büffel kaum schützen können.
Die Sonne erhob sich rasch über die Baumkronen. Ihre Strahlen flirrten durch das lichte Laub des Hochwaldes und vertrieben
den Morgennebel. Doch Joan hielt sich nicht mit der Betrachtung der herrlichen Natur auf. Eine unerklärliche |14| innere Unruhe, die mit jedem Schritt zuzunehmen schien, trieb sie voran.
Nach einer halben Stunde erreichte sie den Berghang, an dem sie Gruppe 5 zuletzt beobachtet hatte. Die Wiese war leer, der
Dung abgekühlt. Die Gruppe hatte für die Nacht sicher den Schutz des Dickichts weiter oben aufgesucht.
Joan hielt einen Moment inne, um ihren Puls zu verlangsamen und Atem zu schöpfen. Sie durfte ihre wissenschaftliche Professionalität
nicht verlieren. Offenbar machte sie die lange Einsamkeit nervöser, als sie sich eingestand. Vielleicht war es Zeit, mal wieder
ein paar Wochen zu ihren Eltern nach Atlanta zu fahren, um etwas Abstand zu gewinnen. Sie atmete tief durch, doch das beklemmende
Gefühl in ihrer Brust wollte nicht weichen.
Sie sah sich einen Moment um. Für jemanden, der sich schon so lange mit Gorillas beschäftigte wie Joan, war es ziemlich leicht
zu erkennen, was die Familie aus dreizehn Tieren hier getrieben hatte. Sie waren etwa zwei bis drei Stunden an dieser Stelle
geblieben, hatten gefressen und geruht, bevor sie in der Abenddämmerung aufgebrochen waren, um einen besser geschützten Schlafplatz
zu suchen. Einer der Büsche war ziemlich übel zugerichtet: Abgebrochene Zweige und Blätter lagen herum, Spuren des Imponiergehabes
eines der jungen Schwarzrücken. Abgeknickte Äste an einem niedrigwüchsigen Baum zeigten, dass hier die beiden Jungtiere der
Gruppe herumgeklettert waren. Schließlich entdeckte Joan die Stelle, an der die Gruppe die Wiese verlassen hatte, und folgte
ihrer Spur weiter den Hang hinauf.
Das erste, was sie wahrnahm, war der Geruch. Der ekelhafte, metallische Geruch von Blut, gemischt mit dem Gestank in höchster
Not ausgeschiedener Exkremente. Dann hörte sie das Summen der Fliegen.
Ihre Kehle
Weitere Kostenlose Bücher