Der Duft
geworfen hatten.
Die Krankheit, die schon immer in ihr geschlummert hatte, war nun ausgebrochen. Sie brauchte professionelle Hilfe!
Sie hatte Angst davor, einen Psychiater aufzusuchen – Angst, dass er sie gleich dabehalten würde, so wie ihre Mutter damals.
Aber noch war sie stark genug, diese Angst zu überwinden, bevor die Krankheit sie vollkommen überwältigte. Vielleicht war
es noch nicht zu spät. Vielleicht konnten ihr die Ärzte noch helfen …
|387| Tränen schossen ihr in die Augen. Sie verstand plötzlich, wie ihre Mutter sich gefühlt haben musste.
Sie ging ins Bad, um zu duschen. Als sie in den Spiegel sah, bekam sie einen Schreck. Ihre schönen langen Haare gehörten der
Vergangenheit an. Das, was sie jetzt auf ihrem Kopf sah, war kurz und struppig, durchsetzt von hellen Strähnen, die reichlich
ordinär wirkten. Was hatte sie getan! Wie sollte sie das ihrem Vater erklären? Was würde Rafael dazu sagen?
Rafael! Er war immer noch nicht wieder aufgetaucht. Was, wenn sie doch nicht verrückt war? Was, wenn Ondomar ihn entführt
hatte – oder wer auch immer sonst noch hinter dem Pheromon her war?
Sie wählte seine Nummer.
»Grendel?«
Vor Überraschung und Schreck wusste sie einen Moment nichts zu sagen. Sie hatte fest damit gerechnet, wieder nur den Anrufbeantworter
zu hören.
»Hallo?«
Diesmal überwog die Erleichterung. Was immer mit ihr nicht stimmte, Rafael war okay. Er war wieder da.
»Hallo Rafael, Marie hier. Ich … ich hatte es mehrfach bei dir probiert … wo warst du?«
»Sorry, bin erst gestern Abend in Berlin angekommen. Die haben mich noch ziemlich durch die Mangel gedreht in Khartum. Und
dann, als sie mich endlich haben laufen lassen, wurde ich gleich am Frankfurter Flughafen von so Typen in dunklen Anzügen
empfangen. Die haben mich mitgenommen und noch mal zwei Tage lang ausgequetscht. Sie haben mir nicht mal gesagt, wer sie sind.
Wahrscheinlich die Men in Black. Und du? Wie geht es dir? Wo bist du?«
»Ich … ich bin o.k. Ein bisschen mitgenommen vielleicht.«
|388| »Ich habe gehört, du hast Ondomar einen ziemlichen Strich durch die Rechnung gemacht! Können … können wir uns sehen? Noch
mal über alles sprechen und so?«
Marie hatte plötzlich schreckliche Angst davor, ihm so, wie sie jetzt aussah, unter die Augen zu treten. Gleichzeitig gab
es nichts, wonach sie sich mehr sehnte.
»Ja, später vielleicht. Ich muss noch was erledigen.«
»Später? Wann, später?«
»Sagen wir, heute Nachmittag? Zwei Uhr?«
»Bei dir, oder bei mir? Ich meine, äh … also …«
Marie schmunzelte. »Ich komme zu dir.«
»Prima.« Er nannte ihr seine Adresse. »Ich freue mich. Bis nachher.«
»Bis nachher.« Marie legte auf. Dann ging sie noch einmal ins Badezimmer, um sich die Katastrophe anzusehen, die sie gestern
angerichtet hatte. Sie brauchte einen guten Friseur, und zwar schnell.
Ein paar Stunden später fühlte sie sich besser. Der Friseur, ein junger Türke, hatte es tatsächlich geschafft, ihre völlig
verhunzten Haare in eine passable Form zu bringen. Sie waren jetzt wieder pechschwarz und sehr kurz. Als Marie sich im Spiegel
betrachtete, hatte sie das Gefühl, moderner auszusehen und irgendwie jünger. Sie gab dem Friseur ein stattliches Trinkgeld
und vertrieb sich die Zeit, in dem sie durch ihr unbekannte Straßen schlenderte, vorbei an kleinen Lebensmittel- und Gemüseläden
und Secondhand-Shops.
Die Luft war winterlich kalt, aber der Himmel war klar. Sie fühlte sich entspannt, beinahe fröhlich. Rafael war wieder da!
Ihre eigenen Schwierigkeiten würde sie schon irgendwie in den Griff bekommen.
Ihre ganze Gedankenkette erschien ihr im Nachhinein lächerlich. Ondomar war ein Terrorist. Er hatte ohne Zögern in Kauf genommen,
dass bei seinem Anschlag auf die |389| Konferenz viele unschuldige Menschen sterben würden. Außerdem hatte sie nicht den geringsten Beleg dafür, dass die Geschichte
mit seiner kleinen Schwester stimmte. Wahrscheinlich hatte er ihr das nur erzählt, um sie für sich einzunehmen. Zugegeben,
er war intelligent und charmant, aber aus der Distanz betrachtet wurde deutlich, was für ein von sich selbst eingenommener
Schurke er wirklich war. Und selbst, wenn irgendjemand außer Ondomar das Pheromon besaß, war das nicht mehr ihr Problem. Sie
brauchte sich vor niemandem zu verstecken.
Die Stimme in ihrem Kopf schwieg, als sei sie beleidigt.
Marie rief ihren Vater an und erzählte ihm, sie wolle
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