Der Duft
Corline noch einmal anrufen und ihn um Hilfe bitten.
Betont entspannt ging sie in Richtung der nächsten |381| U-Bahn-Station und unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen. Die Stimme mahnte zur Eile.
Die Station war um diese Zeit, am späten Vormittag, recht leer. Außer ihr warteten nur wenige Menschen, die vermutlich Einkäufe
oder Behördengänge erledigten. Niemand sah so aus, als würde er Marie verfolgen. Trotzdem blieb sie angespannt.
Endlich fuhr die U-Bahn ein. Sie nahm einen Fensterplatz. »Zurückbleiben bitte«, erklang die Stimme aus dem Lautsprecher.
Doch genau in diesem Moment sprang noch ein weiterer Fahrgast durch die sich bereits zuschiebende Tür, und Maries Magen wurde
zu einem eisigen Klumpen.
Es war der Mann mit dem dunklen Mantel, den sie an der U-Bahn-Station in der Nähe des Hauses ihres Vaters gesehen hatte.
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|382| 48.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Der Mann, der in letzter Sekunde zugestiegen war, trug jetzt keinen dunklen Mantel mehr,
sondern eine Lederjacke. Er sah nicht in Maries Richtung und setzte sich ans andere Ende des Waggons. Sie konnte sich also
gar nicht sicher sein, ob er es wirklich war – sie hatte sein Gesicht, als er einstieg, kaum gesehen. Die Stimme in ihrem
Kopf wusste es trotzdem.
Marie versuchte, ihre Panik niederzukämpfen. Tränen drängten in ihre Augen, doch sie hielt sie zurück. Sie wartete zwei oder
drei Stationen ab, dann stieg sie aus, kurz bevor der Zug losfuhr, rannte ein kurzes Stück und sprang zwischen den sich schließenden
Türen hindurch in den nächsten Wagen.
Als der Zug Fahrt aufnahm, sah sie noch kurz den Mann in der Lederjacke. Er war hinter ihr ausgestiegen und blickte in ihre
Richtung. Jetzt konnte sie sein Gesicht erkennen. Es hatte nicht einmal entfernte Ähnlichkeit mit dem Mann im dunklen Mantel.
Sie steckte Sonnenbrille und Kopftuch in die Handtasche. Wenn wirklich jemand hinter ihr her war, hatten ihre Verfolger sicher
Fotos von ihr, aber ohne die alberne Verkleidung war sie zumindest nicht schon von Weitem erkennbar. Sie kramte in der Tasche
und fand ein Gummiband, mit dem sie sich das Haar zu einem Pferdeschwanz band. Viel an Verkleidung war das nicht, aber es
war alles, was sie in dieser Situation tun konnte, um ihr Aussehen zu verändern.
Nach drei weiteren Stationen stieg sie aus und wechselte die Linie. Sie fand keinen Hinweis darauf, dass ihr jemand folgte.
|383| Nach anderthalb Stunden U-Bahn-Fahrt, während der sie fünf Mal den Zug gewechselt hatte, war sie einigermaßen sicher, mögliche
Verfolger abgeschüttelt zu haben. Sie hatte kaum darauf geachtet, wohin sie gefahren war. Der Netzplan sagte ihr, dass sie
sich in Neukölln befand. Nicht unbedingt eine Gegend, in die sie normalerweise freiwillig gefahren wäre, doch jetzt kam es
ihr gerade recht.
Sie nahm sich ein Zimmer in einer kleinen Pension mit dünnen Wänden und heruntergekommenem Mobiliar. In der Umgebung fand
sie eine Bankfiliale, wo sie einen Teil der US-Dollar umtauschte, die sie noch von dem Geld übrig hatte, das ihr Vater für
sie an die Botschaft geschickt hatte. In einem kleinen Elektronikladen kaufte sie ein billiges Mobiltelefon mit Prepaid-SIM-Karte.
Außerdem besorgte sie sich Jeans, Turnschuhe, Schminkutensilien, Haarfärbemittel, eine Schere und ein Sweatshirt mit dem Aufdruck
einer amerikanischen Eliteuniversität.
Gegen Abend hätte sie vermutlich ihr eigener Vater nicht sofort wiedererkannt. Ihr Haar war kurz und wies helle Strähnen auf,
ihr Gesicht war grell geschminkt, sodass man die Kratzer und blauen Flecken nicht mehr sah, und in Jeans, Turnschuhen und
Sweatshirt wirkte sie wie eine Studentin. Als sie sich im Spiegel betrachtete, hatte sie das Gefühl, in das Gesicht einer
Fremden zu blicken.
Später, als sie durch die abendlichen Straßen wanderte, holte sie das Handy hervor und wählte die Nummer ihres Vaters. Sie
wusste, dass man die Position von Handys anhand der Funkmasten, über die der Benutzer telefonierte, lokalisieren konnte. Sie
hatte keine Ahnung, wozu ihre Verfolger fähig waren, aber wenn es ein fremder Geheimdienst oder etwas Vergleichbares war,
dann überwachten sie vielleicht die Telefonleitung ihres Vaters und konnten möglicherweise den Anruf zu ihrem Handy zurückverfolgen.
Ihr blieb also nicht viel Zeit.
|384| »Hallo Papa.«
»Marie, endlich! Wo bist du? Ich dachte, du kommst zum Mittagessen?«
»Tut mir leid, mir … ist was dazwischen
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